Rolle der Muslimbrüder in Ägypten:Und dann kam der entscheidende Fehler

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Jahrzehnte der Verfolgung und der Isolation in Wüstengefängnissen haben die Muslimbrüder geheimniskrämerisch und starr gemacht. Sie sind offenbar unfähig zum Kompromiss und damit zur Demokratie - jetzt bekommen sie dafür die Quittung.

Von Sonja Zekri, Kairo

Keine zwei Jahre ist es her - für ein Land mit einem so kurzen politischen Gedächtnis wie Ägypten also eine Ewigkeit -, da zogen die Abgeordneten der Muslimbrüder ins erste frei gewählte Parlament des Landes ein. Sie feierten und ließen sich auf Schultern tragen. Und sie sangen Lieder, die sie zuvor nur im Gefängnis gesungen hatten. Ein Albtraum schien vorbei zu sein. Jahrzehntelang, eigentlich den größten Teil ihres Bestehens seit der Gründung 1928, waren die Muslimbrüder eine Untergrundorganisation. Nun waren sie in der Legalität angekommen. Nicht nur das: Sie waren an der Macht.

Was für eine Fallhöhe.

Denn jetzt scheint alles von vorn loszugehen. Das Militär hat am Mittwoch Präsident Mohammed Mursi entmachtet, in den Straßen Kairos fuhren Panzer auf und besetzten wichtige Plätze, laut Medienberichten verhängte die Armee außerdem Ausreiseverbote gegen Mursi und führende Muslimbrüder. Die Zeitung Al-Ahram meldete, es gebe bereits Verhaftungslisten, Razzien in Büros von Muslimbrüdern seien vorgenommen worden.

Die Muslimbrüder, schwor ein Sprecher der Islamisten noch wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums des Militärs am Mittwochnachmittag, würden sich zwischen die Panzer und den Präsidenten stellen, "als menschlicher Schutzschild". Es war eine von vielen martialischen Ankündigungen in diesen angstvollen Stunden. Aber sie hatte einen wahren Hintergrund. In Ägypten wiederholt sich eine klassische Konfrontation: Militär und Muslimbrüder - seit Jahrzehnten Konkurrenten um die Macht am Nil - stehen sich nach einem kurzen Moment der Harmonie wieder unversöhnlich gegenüber.

Seine Anhänger bleiben ihm treu: Ex-Präsident Mursi (Foto: REUTERS)

Zwar hatte Präsident Mursi mit dem Chef des Militärgeheimdienstes Abdel Fattah al-Sisi einen Verteidigungsminister eingesetzt, der den Muslimbrüdern zumindest nicht abgeneigt war, hatte bei jeder Gelegenheit die Armee gelobt und gehätschelt, aber das Misstrauen der Streitkräfte nicht überwunden. Seit der Ermordung Präsident Anwar al-Sadats durch einen Islamisten in Uniform fürchtet die ägyptische Armee die Unterwanderung durch die Religiösen. Heute ist das Militär eine der säkularsten Institutionen des Landes.

Offiziell war Mursi Oberkommandierender der Streitkräfte. Aber selbst unter der neuen, von Muslimbrüdern und anderen Islamisten durchgesetzten Verfassung, blieben die Eigenständigkeit und vor allem die Geschäftsinteressen des Militärs unangetastet, die je nach Schätzung immerhin bis zu 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft kontrollieren.

Während der Groll vieler Ägypter auf die geheime Herrschaft der Muslimbrüder mit Händen zu greifen war, beging Mursi einen taktischen Fehler. Mitte Juni rief er auf einer Versammlung von Beton-Islamisten die Ägypter zum Dschihad in Syrien auf. Syrien - einst beispielhaft für das repressiv-säkulare Staatsverständnis arabischer Autokraten - ist für islamistische Radikale inzwischen Schauplatz eines titanischen Ringens geworden: Sunniten gegen Schiiten, Gläubige gegen Ungläubige. Ein Präsident, der Ägypter in den heiligen Krieg hetzt und damit womöglich eine neue Generation Terroristen heranzieht - das war das Letzte, was Ägyptens Armee sich wünschte. Zu den zahlreichen Gerüchten, die in diesen Tagen auf Twitter nach oben drängen, gehörte auch dieses, das eine der schlimmsten Vorstellungen des ägyptischen Militärs aufgreift: Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri, ein Ägypter, solle auf dem Sinai gefasst worden sein, heißt es. Er sei auf dem Weg in seine Heimat gewesen.

In den Neunzigerjahren hatte das ägyptische Militär einen verlustreichen Kampf gegen Dschihadisten geführt, die Anschläge auf Touristen verübten und dem Staat den Kampf angesagt hatten. In einer seiner letzten, schwer nachvollziehbaren Entscheidungen hatte Mursi ausgerechnet einen Angehörigen eben jener Terror-Gruppe, Al-Gamaa al-Islamija, zum Gouverneur der Touristenhochburg Luxor gemacht, die damals das spektakuläre Attentat am Hatschepsut-Tempel verübt hatten. Nach einem Aufschrei in Ägypten trat der Gouverneur zwar zurück. Zudem hat die "Islamische Gruppe" der Gewalt offiziell abgeschworen. Aber nur wenige trauen der neuen Friedfertigkeit. Nach der Entmachtung Mursis durch das Militär gilt diese Gruppe als Risikofaktor, obwohl sie am Mittwoch, kurz vor Ablaufen des Ultimatums und nach einer Nacht der Zusammenstöße, zur Gewaltlosigkeit aufrief.

Seit dem Ende der Monarchie versuchen ägyptische Herrscher, allesamt Offiziere, die Muslimbrüder zu benutzen, zu kontrollieren, zu lenken. Und ebenso lange experimentiert die älteste Islamisten-Organisation des Nahen Ostens mit der Nähe zur Macht. Die Versuche beider Seiten endeten regelmäßig in einer Katastrophe. Gamal Abdel Nasser, Anführer der Freien Offiziere, hatte sich mit den Islamisten gegen die Briten zusammengeschlossen, ihnen sogar Mitsprache bei der Gründung einer Einheitspartei angeboten. Aber damals wie heute schlossen sich der Herrschaftsanspruch der Muslimbrüder und der des Revolutionärs Nasser aus. Nach einem Attentatsversuch auf ihn ließ Nasser die Anführer aufhängen, Tausende verschwanden in Kerkern.

Das Hauptquartier der Bruderschaft wurde geplündert und angezündet. Unter Folter erpresste Geständnisse ergaben das Bild einer gigantischen Verschwörung. Die Muslimbrüder, hieß es, hatten geplant, Alexandria und Kairo zu zerstören, alle Brücken und Fabriken des Landes zu sprengen und Regierung und Armeespitze umzubringen. "Die Revolution wird nicht verstümmelt werden", verkündete Nasser drohend: "Wenn sie nicht weiß fortgesetzt werden kann, dann eben rot." Die Muslimbruderschaft war zerschlagen. Am Montag, knapp 60 Jahre später, wurde erneut ein Hauptquartier der Muslimbruderschaft geplündert. Es stand in der Nähe jenes Ortes, an dem die Opfer ihrer Bewegung aus der Nasser-Zeit begraben sind: am Rande eines Friedhofs.

Das prächtige Hauptquartier war ein Symbol für die neue Macht. In den ersten freien Wahlen nach dem Ende des Mubarak-Regimes hat ihnen der Ruf der Unterdrückten sehr geholfen. Wer den absoluten Bruch mit dem Vorgängersystem wollte, der probierte es mit den Muslimbrüdern. Aber Jahrzehnte der Verfolgung und der Isolation in Wüstengefängnissen hatten die Muslimbrüder noch geheimniskrämerischer, starrer, hierarchischer gemacht als ohnehin, sie waren unfähig zum Kompromiss und damit zur Demokratie. Ihren Wahlsieg begriffen sie als Freifahrtschein, nicht als Verpflichtung. Einmal im Amt sollte der Präsident uneingeschränkt herrschen - wie ein Kalif oder der Anführer einer Karawane. Das war mit dem wankelmütigen Wahlvolk nicht zu machen.

Die schwer zu verstehende Sturheit, mit der Mursi und die Führer der Muslimbrüder bis zur letzten Sekunde auf der Legitimität des Amtes bestanden und noch über einen Dialog redeten, als die Panzer schon durch Kairo rollten, erklärt sich nicht nur aus Machtgier, sondern auch aus den Erfahrungen im Untergrund. Ähnlich wie in Algerien in den Neunzigern oder wie im Gaza-Streifen nach dem Wahlsieg der Hamas sehen die Islamisten ihren legitimen Erfolg bedroht.

Dass die millionenfachen Proteste gegen Mursi vom Militär vielleicht genutzt, aber nicht ausgelöst wurden, dass die meisten Wähler Mursi nicht mehr wollen, spielt für Muslimbrüder dabei keine Rolle. Mursi werde eher im Kampf für die Demokratie "wie ein Baum" stehen und eher sterben als vor der Geschichte schuldig werden, hatte ein Sprecher gesagt: die Muslimbrüder im Märtyrer-Modus.

© SZ vom 04.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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