Porträtserie "Sie sind das Volk":"Die Polizei ist ein Feind, aber nicht der Gegner"

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Rehzi Malzahn: "Ich habe manchmal den Eindruck, alle sprechen über 'die linke Szene', jeder meint etwas anderes." (Foto: SZ)

Rehzi Malzahn ist seit 18 Jahren linksradikal. In der zweiten Folge von "Sie sind das Volk" spricht sie über die G20-Proteste, ihre Entfremdung von der linken Szene und warum sie trotzdem eine Revolution will.

Von Hannah Beitzer, Köln

An dem Tag, als vermummte Randalierer in Hamburg Autos anzündeten und Geschäfte demolierten, war es wieder da. Das Gefühl, das Rehzi Malzahn schon seit ein paar Jahren überkommt. "Mir war absolut nicht klar, wozu das dienen sollte", sagt sie. Rehzi Malzahn ist 38 Jahre alt und seit 18 Jahren - ja, was ist sie eigentlich? Sie überlegt einen Moment, wägt die Worte ab, bis sie dann doch ein sehr eindeutiges wählt: "Linksradikal. Ich würde mich als linksradikal bezeichnen."

Rehzi Malzahn ist Teil einer Szene, die seit dem G20-Gipfel sehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. Linksradikal nennt sie sich selbst, von "linksextrem" sprechen diejenigen, die sie für gefährlich halten. Was genau der Unterschied ist, wann aus links überhaupt linksradikal oder linksextrem wird, das liegt häufig im Auge des Betrachters. Ebenso, wie relevant diese Szene überhaupt ist. Lange Zeit hieß es, sie habe Nachwuchsprobleme, verliere an Schlagkraft. Nach Hamburg fanden jedoch konservative Politiker: Die Gefahr, die von den Linken ausgeht, wurde unterschätzt. 2016 hat der Verfassungsschutz etwa 20 linke Gruppen beobachtet, 28 500 Menschen stufte er als linksextrem ein.

"Ich habe manchmal den Eindruck, alle sprechen über 'die linke Szene', jeder meint etwas anderes - und da, wo alle hinzeigen, ist in Wahrheit niemand", sagt nun Rehzi Malzahn. Sie sitzt in einem Café im Kölner Stadtteil Kalk, isst vegane Schwarzwälder Kirschtorte und trinkt Kaffee. Gehört sie denn dazu? "Ich stehe nur noch mit einem Bein in der linken Szene", sagt sie. Trotzdem oder gerade deswegen ist es interessant, mit ihr über diese Bewegung zu sprechen, über ihre Motive und ihre Widersprüche.

Was heißt das überhaupt - "linksradikal"?

Die Geschichte von Rehzi Malzahn ist eine Geschichte über die Suche nach einer anderen Gesellschaft. Die Aktivistin will den Kapitalismus abschaffen und mit ihm Verhältnisse, in denen einige wenige die vielen anderen unterdrücken - denn so nimmt sie unser System wahr. Ihre Geschichte ist eine Geschichte über Radikalität und ihre Grenzen, über Militanz und Enge, Zweifel und die Frage: Was bleibt eigentlich vom Linkssein, wenn die jugendliche Rebellion ihren Reiz verliert?

Was heißt das im Alltag? Zum Beispiel lebt sie seit einiger Zeit vegan - "doch ich fange an, mich vor den Lebensmitteln im Supermarkt zu ekeln. Ich komme mir vor, als würde ich Plastik essen." Nun ist vegane Ernährung inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, man muss nicht links sein, um die Lebensmittelproduktion wie sie heute stattfindet, abzulehnen. Doch für Rehzi Malzahn ist die Ausbeutung von Tieren nur ein Puzzlesteinchen in einem System, das insgesamt auf Ausbeutung basiere. "Deswegen denke ich: Das muss alles weg", sagt sie.

Welche Schwierigkeiten eine solche Haltung im Alltag mit sich bringt, zeigt sich am Beispiel des Cafés, in dem das Treffen stattfindet. Die Aktivistinnen und Aktivisten, die es betreiben, beschreiben auf ihrer Webseite einen ständigen Spagat zwischen linkspolitischem Anspruch und kapitalistischen Logiken - Miete, Schulden, Gewinn, solche Dinge. Es ist kompliziert, nicht nur für Rehzi Malzahn.

Eine Aktivistin, die mit den eigenen Leuten hadert

Das ist übrigens nicht der Name, mit dem sie geboren wurde. "Wir hatten eine Zeit lang Spaß daran, mit Identitäten zu spielen, haben uns Namen gegeben, die weder eindeutig einem Geschlecht noch einer Nation zuzuordnen waren", sagt sie. "Und meiner ist mir geblieben." Ihren echten Namen will sie nicht verraten, ebenso wenig ihren Wohnort. Zum Termin hat sie ein buntes Kopftuch und eine Sonnenbrille mitgebracht. Sie will auf der Straße nicht erkannt werden.

An ihr ist also einiges so, wie man sich eine typische Linksradikale vorstellt. Aber da ist eben auch das Hadern mit den eigenen Leuten. Die Diskussion rund um die Krawalle am G20-Gipfel ist dafür ein gutes Beispiel. Die 38-jährige Rehzi Malzahn, die schon gegen Gipfel protestiert hat, als einige der Protestierer von heute noch im Kindergarten waren, schrieb danach auf ihrem Blog: " Warum zum Henker machen wir uns zum Affen für die Bullen?" Denn nichts anderes sei passiert. "Mir fehlte bei der ganzen Aktion das Ziel, die Sinnhaftigkeit", sagt sie heute.

Hätte man zum Beispiel den Gipfel verhindern wollen, dann wäre es sinnvoller gewesen, sich ganz auf eine Blockade der Route zu konzentrieren, die die Politiker auf ihrem Weg dorthin nehmen müssen, als das eigene Viertel auseinander zu nehmen: "Dafür muss man aber seine schwarzen Lieblingsklamotten zu Hause lassen und in der Lage sein, sich unauffällig zu verhalten und dann intelligent zu agieren." Kämpfe mit der Polizei reichen ihr nicht aus: "Die Polizei ist ein Feind, aber sie ist nicht der Gegner."

Was meint sie damit? "Die Polizei ist dazu da, eine Ordnung zu schützen, die ich ablehne. Deswegen steht sie manchmal zwischen mir und meinem Ziel, diese Ordnung zu beseitigen. Sie ist aber selbst nicht das Ziel." Für den einzelnen Polizisten mag es keinen Unterschied machen, ob er selbst das Ziel ist oder einfach nur zum Ziel wird, weil er seinen Job macht. Für Rehzi Malzahn macht es einen Unterschied. "Wenn es in einem angemessenen Verhältnis steht, kann ich es vertreten, wenn es bei Protesten mal heftiger wird", sagt sie.

Von "Gewalt" auf Seiten der Hamburger Demonstranten will Rehzi Malzahn aber bei aller Kritik nicht sprechen, allenfalls von Sachbeschädigung. Anders als die Hamburger Einsatzleitung. Sie meldete 231 verletzte Polizisten in der heißen Einsatzphase, also um die Ausschreitungen herum. Den Polizeieinsatz wiederum kritisiert Rehzi Malzahn mit der Bezeichnung, die Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz als " politischen Kampfbegriff" zurückgewiesen hat: "Das war ein Ausmaß von Polizeigewalt, wie ich es in Deutschland noch nie erlebt habe." Umstritten ist der Polizeieinsatz nicht nur in linksradikalen Kreisen, die politische Aufarbeitung des ganzen G20-Chaos hat gerade erst begonnen.

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Linke Gruppen, die sich nach dem G20-Gipfel von Gewalt auf seiten der Demonstranten distanzierten, greift Malzahn harsch an. Zum Beispiel Campact, die die Ausschreitungen "dumm" und "kriminell" nannten. "Muss ich mich wirklich derart über 25 abgebrannte Autos aufregen, während Trump, Erdoğan und Putin 500 Meter Luftlinie entfernt sitzen?", sagt sie. Die Kritisierten finden jedoch, dass die Ausschreitungen gerade denjenigen nützten, die die Demonstranten eigentlich kritisieren wollten. Ein US-Präsident wie Donald Trump oder ein Autokrat wie der russische Präsident Wladimir Putin "werden diebische Freude an den Bildern von Hamburg haben," schreiben Campact. Denn zuhause könnten sie sie als Rechtfertigung für eine Unterdrückung von Protesten benutzen.

Wo sind die Grenzen der Radikalität?

Und es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die Autos stinknormaler Schanzen-Bewohner wirklich das richtige Ziel sind, um gegen Trump, Erdoğan und Putin zu kämpfen. Und ob man nicht Politik der Genannten kritisieren kann und gleichzeitig das Abbrennen von Autos. Dazu sagt Rehzi Malzahn: "Ich respektiere das, wenn jemand sagt: Ich kann es nicht mit meinen Werten vereinbaren, wenn bei so einer Aktion unbeteiligte Menschen beeinträchtigt werden." Doch sie könne auch die Wut, die zum Beispiel ein griechischer Jugendlicher auf die deutsche Regierung habe, verstehen, dass dieser "aus einer anderen Verzweiflung heraus" kämpfe.

Sie findet außerdem, dass die Verhältnisse Widerstand rechtfertigen, der über das Hochhalten von Plakaten hinausgeht: Blockaden zum Beispiel oder Hausbesetzungen. Und das nicht erst seit Kurzem. Sie habe schon als Kind die Nachrichten kaum ertragen. "Ich erinnere mich, wie ich einmal im Radio hörte, dass die brasilianische Regierung weiter den Regenwald abholzen will. Ich bin weinend zusammengebrochen", sagt sie. Um die Jahrtausendwende hörte sie das erste Mal von Attac, der Anti-Globalisierungsbewegung. Sie studierte da gerade in München Geografie. Bei einem Konzert gegen Abschiebung traf sie Leute, die sie zu einer Demo gegen Nazis einluden.

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Wenig später fuhr sie mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten zum G8-Gipfel in Genua. Dort kam es zu Straßenschlachten zwischen Polizei und Aktivisten, Hunderte Menschen wurden verletzt, ein Demonstrant von der Polizei erschossen. "Ich weiß noch, dass wir schon hingefahren sind mit dem Bewusstsein: Es wird jemand sterben." Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat Italien erst kürzlich wegen der Gewalt von Polizisten gegen Demonstranten verurteilt.

Mit 30 steigen viele aus der Szene aus

Ein Toter, so viele Verletzte, so viel Gewalt - und doch findet Rehzi Malzahn, dass die Demonstranten damals ihr Ziel erreicht haben: "Plötzlich sprach alle Welt über die Ziele der Anti-Globalisierungsbewegung. Es hatte sich ein riesiger Erregungskorridor geöffnet." Doch kurz danach kamen der 11. September und mit ihm umstrittene Überwachungsgesetze. Rehzi Malzahn schmiss ihr Studium. "Ich hatte den Eindruck, die Welt geht kaputt - und wir machen Verkehrszählungen in Kleinstädten", sagt sie. Seitdem lebt sie von Aushilfsjobs, in besetzten Häusern, in WGs, von Demo zu Demo, von Aktion zu Aktion.

Dass sie heute, mit 38 Jahren, immer noch dasitzt und sich als linksradikal bezeichnet, ist ungewöhnlich. Die radikale Linke ist traditionell eine Jugendbewegung, nur wenige bleiben so lange dabei wie Rehzi Malzahn. Mit Ende 20 wollen auch viele Linke endlich mal Geld verdienen, bekommen Kinder, ziehen in bessere Wohnungen, treffen im Büro und im Kindergarten ganz andere Leute, "auf einmal ist dann wichtiger, was die Kolleginnen über einen denken als die Genossinnen", so beschreibt es die Aktivistin. Das Thema treibt sie so um, dass sie im vergangenen Jahr ein Buch über diejenigen schrieb, die die linke Szene nicht verlassen haben. Es heißt "dabei geblieben".

Klar, es geht dabei auch um sie selbst, um ihre eigene Suche. Zwar schlug sie nicht die klassische Laufbahn ehemaliger Linksradikaler ein - Familie, Beruf, Eigentumswohnung, Biosupermarkt, Grünwählen -, doch so richtig wohl fühlte sie sich in der linken Szene irgendwann nicht mehr.

"Ich habe irgendwann gemerkt: Wenn Du die Gesellschaft ändern willst, dann darfst Du Dich nicht permanent von ihr ausschließen." Linke Gruppen neigten dazu, sich in verschworenen Gemeinschaften abzuschotten, niemanden an sich heran zu lassen. "Das ist ja auch ein schönes Gefühl: Wir gegen den Rest der Welt", sagt Malzahn. Doch irgendwann kam bei ihr die Frage: "Was ist die Perspektive, wo ist der Gesamtentwurf, der Urban Gardening, den Protest gegen Braunkohle-Abbau und Atomtransporte mit der Antifa zusammenbringt?"

Fragt man sie nach Positivbeispielen, dann verweist sie aufs Ausland. Begeistert spricht sie von dem quasi-autonomen Kurdengebiet in Syrien, das die Kurden "Rojava" nennen. "Sie verteidigen sich gegen eine Bedrohung und bauen gleichzeitig hinter der Frontlinie unter enorm schwierigen Bedingungen eine neue Gesellschaft auf", sagt sie.

In den Kurdengebieten regiert eine Art Rätesystem, in dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie Säkularismus zu den wichtigsten Prinzipien gehören. Linke Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt sympathisieren mit den Kurden, einige von ihnen kämpfen sogar an ihrer Seite. Sehr zum Missfallen des Bundeskriminalamts. Es warnte kürzlich vor linken Rückkehrern, die in Rojava eine Ausbildung an der Waffe erhalten hätten.

Kleine Kämpfe statt großer Revolution

Rehzi Malzahn hingegen sucht sich im Moment kleinere Kämpfe, die vor der eigenen Haustür stattfinden. Und für diese Kämpfe fand sie in den vergangenen Jahren neue Verbündete, auch außerhalb der eigenen Szene. "Es gibt viel mehr Trottel unter den Linken, als sie selber zugeben wollen", sagt sie, "und es gibt viel mehr interessante, widersprüchliche Menschen, die gute Dinge tun, auf der vermeintlich anderen Seite des Zauns."

Sie nennt den Flüchtlingssommer 2015 als Beispiel. "Da haben sich katholische Jugendorganisationen schon früh auf die Seite der Flüchtlinge geschlagen." Leute, die Tracht tragen und sich in ihrer Freizeit gemeinsam im Biergarten betrinken - also ganz anders aussehen, als man sich in linken Kreisen Weltverbesserer vorstelle. "Doch mich hat das Engagement aus diesen Teilen der Gesellschaft enorm angerührt."

Viele Jahre war sie außerdem in einem Nachbarschaftszentrum in Köln-Kalk aktiv. "Da ging es darum, alle Lebensrealitäten im Viertel zusammenzubringen - vom muslimischen Fastenbrechen über die katholische Taufe und die Arbeitslosenberatung bis hin zum Antifa-Treffen." Sie habe in den vergangenen Jahren gelernt, dass es keine Gewissheit über einen Menschen gebe, dass sich Menschen ändern, viele Facetten haben. Von jüngeren Linken habe sie sich in diesem Prozess entfremdet, sagt Malzahn.

Der Umgang mit Uneindeutigkeiten und Graubereichen ist nämlich nicht gerade eine Stärke ihrer alten Szene. Viele kämpfen dort lieber in Schwarz-Weiß. Aber: Wer nicht nur kämpfen, sondern auch gewinnen will, braucht Verbündete, muss überzeugen. Brennende Autos und demolierte Geschäfte gelten außerhalb der Szene nicht als gutes Argument.

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