Trauer nach dem Anschlag:Manchester sendet ein Zeichen der Liebe

In einer bewegenden Trauerfeier beschwören die Bürger von Manchester Vielfalt und Toleranz. Währenddessen verbreitet sich die Nachricht: Der Täter wuchs mitten unter ihnen auf.

Von Matthias Kolb, Manchester

Das Schild des Tages hat die 27 Jahre alte Cassie mitgebracht. "Manchester. A City United Against Hate" steht auf ihrem Plakat und vereint so die beiden Profiteams in dieser fußballverrückten Stadt. Auf dem Albert Square werden sonst Meisterschaften und Champions-League-Titel gefeiert. Nun wird getrauert. Es überrasche sie gar nicht, dass der Platz völlig überfüllt ist, als um 18 Uhr die Gedenkfeier beginnt, sagt Cassie: "Es ist schrecklich, was passiert ist. Aber wir zeigen der Welt, dass Manchester anders ist und dass aus Gegensätzen etwas Gutes entsteht und Vielfalt positiv ist."

Diese Botschaft zieht sich durch alle Reden und sie trifft die Stimmung. "Die Menschen in Manchester werden der Opfer für immer gedenken und wir werden uns den Terroristen widersetzen, indem wir eng zusammenarbeiten", ruft Eddy Newman, der Bürgermeister der Stadt. Hinter ihm stehen die Parteichefs von Labour und den LibDems, Jeremy Corbyn und Tim Farron, sowie die konservative Innenministerin Amber Rudd. Der Wahlkampf ruht am Mittwoch, der Zusammenhalt steht im Vordergrund. Bürgermeister Newman sagt: "We are the many, they are the few."

Polizeichef Ian Hopkins bedankt sich bei den Bürgern, welche den Rettungskräften mit Spenden sowie netten Worten geholfen und in "einer Nacht der Gräueltaten" den Opfern und Mitmenschen viel Mitgefühl entgegengebracht haben. Er dankt auch für die weltweite Anteilnahme. Als Vater mache es ihn ratlos, wie jemand eine solche Tat verüben konnte - eine Bombe nach einem Konzert zu zünden, das vor allem Kinder und Jugendliche besucht haben.

Der offizielle Teil endet nach 25 Minuten, mit rhythmischen "Manchester! Manchester!"-Sprechchören, die sonst in Fußballstadien zu hören sind. In die anschließende Stille ruft jemand einen Vers der Lokalhelden von der Band The Smiths: "There is a light and it never goes out."

Noch emotionaler war der Auftritt des Dichters Tony Walsh. Im Dialekt der Mancunians, der Einwohner Manchesters, trägt er das Gedicht "This is the place" vor, in dem er von der Gastfreundschaft und Geschichte der stolzen Industriemetropole schwärmt. Hier entstand nicht nur der erste Bahnhof (und damit die leidenden Pendler), sondern hier wurde auch der Computer erfunden: "So we're sorry, bear with us, we invented commuters. But we hope you forgive us, we invented computers." Hier sage man nicht "no can do", sondern "yes we can", betont der Dichter und ruft in den donnernden Applaus hinein: "Always remember, never forget, forever Manchester. Choose Love, Manchester."

Auf dem Platz ist viel Zuneigung zu spüren. Alle gehen sehr freundlich miteinander um: Sikhs mit Turbanen verteilen Wasser und Softdrinks, das gleiche tun muslimische Frauen. "Liebe für alle, Hass für niemanden", steht auf Plakaten der Ahmadiyya Muslim Association. Saeed Nazir ist aus Sheffield angereist, um seine Glaubensbrüder zu unterstützen - und wird während des Interviews mehrmals umarmt und soll für Fotos posieren. "Die Menschen sind sehr respektvoll", sagt der 29-Jährige. Seine Gruppe wolle zeigen: Der Islam sei friedlich, der Täter pervertiere den Glauben.

Während der Feier verbreitet sich die Nachricht: Der Täter wuchs in Manchester auf

Egal, mit wem man spricht: Die Liebe zu Manchester und der Lokalpatriotismus sind allgegenwärtig. "Ich bin vor neun Monaten zum Studium hergekommen, aber das hier ist meine Heimat", sagt America Pardo-Gomez. Ihre Eltern stammten aus Südamerika, sie werde wegen ihrer dunkleren Haut oft für eine Muslima gehalten, erzählt sie. In den Außenbezirken Londons habe sie regelmäßig rassistische Sprüche zu hören bekommen. "In Manchester ist mir das nie passiert." Die 19-Jährige ist überzeugt, dass der Zusammenhalt noch stärker werden wird. Ihr Freund Brad Keegan ergänzt: "Ich wette: Wenn du eine Woche hier bleibst, dann willst du nie wieder gehen. So toll ist Manchester."

Dass auch der Täter in "ihrer" Stadt geboren wurde, aufwuchs und in der Nähe an der Salford University studiert hat, spricht sich während der Trauerfeier herum - und scheint an der Überzeugung der meisten nichts zu ändern. Vielmehr scheint es die Menschen darin zu bestärken, die vielen anwesenden Muslime zu umarmen, mit ihnen zu reden und zu versichern, dass ihre Anwesenheit ein wichtiges Zeichen ist, damit das Leben weitergehen kann.

Resignieren oder aufgeben, das komme nicht in Frage, betont Cassie, die junge Frau mit dem "A City United Against Hate"-Plakat. Darauf ist auch eine Biene zu sehen, das Symbol der Stadt. "So sind wir, kleine Arbeitsbienen, die immer nach vorne schauen", sagt Cassie lachend.

Kerzen überall in der Stadt - als Zeichen der Hoffnung

Nach etwa zwei Stunden leert sich der Albert Square. In den Bussen und auf den Straßen der Umgebung hört man Gesprächsfetzen: Fassungslosigkeit über die Tat, Schilderungen über den Abend der Explosion ("ich war schon längst daheim") und stolze Beschreibungen der Trauerfeier. Bischof Richard Walker hatte zum Ende seiner Rede eine Kerze angezündet, als Zeichen der Hoffnung, und so tauchen immer mehr Kerzen im Stadtbild auf. Vor vielen Pubs stehen Schilder, die auf das eigentliche Highlight der Woche hinweisen: Manchester United, der Lieblingsclub des Attentäters Abedi, spielt heute im "Europa League"-Finale gegen Ajax Amsterdam.

Die Canal Street ist das Zentrum des Schwulenviertels von Manchester, in dem sich nicht nur an den Wochenenden alle zum Feiern treffen. Normalerweise ist die Stimmung hier so gut, dass man von London aus neidisch herüberschaut. An einem Tisch voll leerer Biergläser sitzen Craig Bennett und James Dugmore und schauen auf ihrem Smartphone ein Video an: Es ist ein Mitschnitt von Tony Walshs "This is the Place", der poetischen Liebeserklärung an Manchester.

"Das trifft es genau, dieses Gefühl des Stolzes und der fantastischen Solidarität", sagt der 44-jährige Bennett. Er hat Tränen in den Augen, als er die "fantastische Arbeit" von Polizei und Rettungskräften lobt. An den Tischen sitzen mehr Leute als sonst an einem Dienstagabend, sagt Dugmore: "Niemand will heute allein sein. Auch das ist typisch für diese Stadt."

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