Reportage:Ein Abend in Amerika

Lesezeit: 6 min

Man fährt auf ein Festival nach Las Vegas, feiert ein Wochenende lang mit, und ein paar Stunden, nachdem man abgereist ist, bringt ein Mann vom Hotel gegenüber aus so viele Menschen um.

Von Jürgen Schmieder

Worüber die Menschen in Las Vegas am Tag danach sprechen, das sind diese Bilder und Geräusche, die niemand vergessen kann, der sie gesehen und gehört hat: die beiden eingeschlagenen Fenster im 32. Stockwerk des Hotels Mandalay Bay. Panisch flüchtende Konzertbesucher. Eine junge Frau, die in ihrem Blut liegt. Dazu dieser Sound, als würde jemand zehn Sekunden lang mit der Zunge rollen. Rrrrrrrrrr. Immer wieder: rrrrrrrrrr. Keiner ist imstande zu erklären, was passiert ist; die meisten erzählen bloß, was sie erlebt haben und dass sie dieses verdammte Geräusch nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Rrrrrrrrrr.

Die ersten Schüsse klingen so, als gehörten sie zum Festival

Es ist extrem leise an diesem Nachmittag in Las Vegas, was heißt, dass die Stadt jetzt den normalen Geräuschpegel jeder anderen Stadt um diese Tageszeit hat. Das ist erst einmal ein beruhigender Zustand für einen Ort, an dem ein Mann am Abend davor mit seinen Schnellfeuerwaffen auf Besucher des Countrymusic-Festivals Route 91 Harvest geschossen, 59 Menschen getötet und 527 verletzt hat. Es ist aber auch gespenstisch für dieses stets leuchtende, stets laute Gebilde in der Wüste von Nevada. Wie normal kann eine Stadt schon sein, die nur deshalb existiert, weil sie nicht normal sein darf?

Es heißt hin und wieder, dass jemand, der erfühlen möchte, wie es den Vereinigten Staaten gerade geht, seinen Finger an den Puls dieser unwirklichen, unfasslichen Stadt legen muss. Las Vegas besitzt nicht die Lässigkeit von Los Angeles, und auch nicht den Stolz von New York. Es definiert sich über Vielfalt, Größenwahn und Dekadenz - und ist deshalb so amerikanisch wie kaum eine andere Stadt.

Die Pulsadern von Las Vegas sind am Sonntagabend zerfetzt worden, es ist in der Geschichte der USA das größte Massaker, das von einem Einzeltäter mit Schusswaffen verübt worden ist. Es gibt zahlreiche Videos von diesem Attentat, weil die Leute ihr Leben zu einem Film machen, deren Hauptdarsteller sie selbst sind. Wer am Tag danach die Aufnahmen vom Attentat sieht, immer wieder, der könnte glauben, dass er am Sonntagabend dabei gewesen ist - weil diese Videos so unmittelbar sind wie bei keinem Massaker zuvor. Die Augen sehen etwas, das sie in der Realität nicht gesehen haben. Die Ohren hören etwas, das sie in der Realität nicht gehört haben. Rrrrrrrrrr.

Die ersten Schüsse klingen so, als gehörten sie zum Festival. Ein Trommelsolo vielleicht, oder der Beginn des Feuerwerks, das die Amerikaner am Ende solcher Veranstaltungen gerne abbrennen. Erst als die Musik aufhört, als es für ein paar Sekunden still wird, bemerken die Leute, dass da etwas nicht stimmt. Diese Augenblicke der Ruhe, das ist nun bekannt, das sind die Sekunden, die der 64 Jahre alte Stephen Paddock zum Nachladen oder Wechseln der Waffe braucht. Minutenlang schießt Paddock auf wehrlose Menschen, dann tötet er sich selbst.

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(Foto: Chris Wattie/Reuters)

Wenigstens Kerzen anzünden zum Gedenken: Passanten am Montagabend auf dem Las Vegas Strip. Andere spendeten Blut. Und die Selfie-Touristen gab es natürlich auch.

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(Foto: Manuel Balce Ceneta/dpa)

Auf Halbmast: Vor dem Kapitol in Washington wird der Opfer des Todesschützen von Las Vegas gedacht. 59 Menschen wurden getötet, mehr als 500 verletzt.

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(Foto: Mark Ralston/AFP)

Von seinem Hotelzimmer im 32. Stock des Hotels Mandalay Bay schoss der Täter wahllos auf die ahnungslosen Besucher des Countrymusic-Festivals Route 91 Harvest.

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(Foto: Marcel Thomas/dpa)

Spende Blut! Am Tag nach dem Massaker wird mit einem Straßenschild in Las Vegas nach Freiwilligen gesucht, die Blut für die Opfer spenden.

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(Foto: Drew Angerer/AFP)

Trauernde versammeln sich am Las Vegas Boulevard zu einer Mahnwache.

Wer war dieser Mann? Auch darum geht es am Tag danach. Zunächst reklamiert die Terrormiliz IS das Attentat für sich und erklärt Paddock zu einem ihrer Krieger. Lüge. Paddock ist Amerikaner, sein Bruder Eric beschreibt ihn als finanziell unabhängigen Einzelgänger ohne politische oder religiöse Agenda. Seine Nachbarn in Mesquite, einer Kleinstadt 120 Kilometer nordöstlich von Las Vegas, zeichnen das Bild eines mürrischen Kauzes, der seine Ruhe haben wollte. Er hatte sich am Donnerstag im Mandalay Bay einquartiert und offenbar vier Tage lang Taschen mit insgesamt mindestens 23 Waffen und mehreren Tausend Patronen auf sein Zimmer geschleppt. In seinem Auto findet die Polizei am Tag danach die Zutaten für den Bau einfacher Bomben, in Paddocks Haus in Mesquite 19 weitere Schnellfeuerwaffen und sagenhaft viel Munition. Was sie nicht findet: einen Grund, warum Paddock sein Massaker beging. Im Fernsehen präsentieren Kaffeesatzleser und Psychologen ihre Theorien.

Der Autor dieses Textes hatte dieses Festival am Wochenende mitgefeiert, als privater Besucher, im Mandalay Bay übernachtet, im 21. Stock, und war abgereist, ein paar Stunden vor den Schüssen. Nun, zurückgekehrt, auf einer Brücke über dem südlichen Las Vegas Boulevard stehend und auf das Gelände blickend, glaubt man nicht, was man zwei Tage davor erlebt hat. Es fühlt sich unwirklich an, Bilder und Töne sind bereits verschwommen, man erinnert sich nur vage an fröhliche Menschen in abgerissenen Jeans und Shirts mit US-Flagge darauf, die lachend vom Festivalgelände zum Mandalay Bay laufen.

Auf dieser Brücke steht ein Glas mit Blumen drin. An einem gewöhnlichen Tag würde kein Mensch diese Blumen bemerken. Nun, auf dieser Brücke über einer leeren Straße, da wirken sie mindestens so groß wie das Mandalay Bay im Hintergrund, in dem noch immer die beiden Löcher in den Fenstern im 32. Stockwerk klaffen. Blumen, leere Straße, Fenster: noch so ein Bild, das man nicht vergessen wird.

Im Mandalay Bay wird wieder Blackjack gespielt. Wer sich dazusetzt, erfährt, dass sich die Leute nicht mit dem Motiv des Attentäters beschäftigen wollen. Was bringe das schon, sagt einer, wenn man wisse, warum Paddock all diese Menschen getötet hat? Die anderen nicken zustimmend. Wen interessiert auch gerade die Rede des Präsidenten oder die üblichen Gedanken-und-Gebete-Floskeln bei Facebook und Twitter? Bei so vielen macht es im Gehirn immer nur Rrrrrrrrrr.

Es fällt auf, dass viele Geschichten weniger mit dem Attentat oder dem Täter zu tun haben als vielmehr mit den Helden des Abends. Es geht darin um kleine Momente des Glücks und große voller Tragik. Sie erzählen von einem Mann, der nicht abgehauen ist, sondern Verwundete verbunden und ihnen damit das Leben gerettet hat. Sie erzählen vom 29 Jahre alten Sonny Melton, der sich im Kugelhagel auf seine Ehefrau Heather warf. Zwei Projektile landeten in dem Rucksack mit Blechdosen, den er über den Kopf seiner Frau gehalten hatte, eines in seinem Rücken. Er starb. "Er hat mich von hinten gepackt und aus der Schusslinie gezerrt. Dann habe ich gespürt, wie er getroffen wurde", sagt Heather Melton. "Ich bin völlig verzweifelt. Er war der liebevollste Mensch, den ich jemals getroffen habe."

Das Mandalay Bay leuchtet schon wieder, die Ersten sitzen schon wieder am Pokertisch

Wer schon mal das Las Vegas abseits der Casinos erlebt hat, der weiß: Es gibt einen außerordentlichen Zusammenhalt in dieser Stadt. Die Bewohner teilen das Schicksal, irgendwie überleben zu müssen an diesem Ort, sie passen aufeinander auf. Nun multipliziert sich diese Solidarität, am sichtbarsten wird dies beim United Blood Drive, der Blutklinik im Westen der Stadt: Viele Menschen warten mehr als sechs Stunden lang, ehe sie ihr Blut hergeben dürfen, einige sind bereits kurz nach Mitternacht gekommen. In der wirklichen Welt, außerhalb von sozialen Netzwerken, da hilft gespendetes Blut mehr als Gedanken und Gebete.

Es hat einige Attentate und Amokläufe gegeben in den vergangenen Jahren, der Umgang damit sagt auch immer was über die Stadt und ihre Bewohner aus. Als die Sonne untergeht an diesem Tag danach in Las Vegas, da wird es plötzlich wieder schrill und laut auf dem Boulevard. Viele Shows sind abgesagt, doch die Leute sitzen an Pokertischen, sie werfen mit Würfeln und stecken ihr Geld in Automaten. Diese Stadt ist tagsüber oft leise und leer, sie entfaltet ihren Zauber erst in der Nacht. Nur ein kleiner Abschnitt des Las Vegas Boulevard bleibt gesperrt, ansonsten blitzt und blinkt es wieder, selbst das Mandalay Bay leuchtet wieder golden.

Das Verrückte ist normal in dieser Stadt, und nach Sonnenuntergang am Montagabend ist Las Vegas für seine Verhältnisse wieder völlig normal, in all seiner Abartigkeit. Wer kurz vor Mitternacht hinüberläuft zum Mandalay Bay, der sieht Touristen, die Fotos von sich selbst machen, mit den eingeschlagenen Fenstern im Hintergrund. Auf der Straße verkauft einer extrem frisch aussehende T-Shirts mit Bildern von den Hotels und dem Slogan "Love Las Vegas" in rosaroter Schrift darauf; den hatte man bisher auch noch nicht gekannt. Das Hotel, aus dem der Attentäter seine Schüsse abgefeuert hat, ist für einige bereits 24 Stunden danach eine Attraktion für den eigenen Lebensfilm, andere schlagen bereits Kapital aus dem Massaker.

Wer im Hotel New York, New York im Aufzug nach oben fährt, um einen Blick über den Boulevard zu erhaschen, der hört das Lied "Bulletproof" der Sängerin La Roux. Es geht um Liebe und Trost und Trotz, gewiss, aber der Titel des Liedes lautet dann doch: kugelsicher. Man kann das grotesk finden, dass es sich nur 24 Stunden nach dem Massaker so anfühlt, als wäre nichts passiert. Man kann aber auch sagen: Las Vegas ist nicht London oder München oder New York. Viele Menschen kommen nicht in diese Stadt, um sich an Bilder und Geräusche zu erinnern. Sie kommen nach Las Vegas, um zu vergessen.

© SZ vom 04.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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