Religion und Globalisierung:"Solidarität als Heilmittel"

Wer denkt, Religion spiele in einer modernen Gesellschaft keine Rolle mehr, der irrt. Der Glaube boomt. Nur Europa steckt in der Krise - so der Münchner Religionssoziologe Horst Jürgen Helle.

Birgit Kruse

sueddeutsche.de: Hat Religion in Zeiten der Globalisierung und Individualisierung überhaupt noch eine Chance?

Religion und Globalisierung: Horst Jürgen Helle: "Die Leute sind auf der Suche."

Horst Jürgen Helle: "Die Leute sind auf der Suche."

(Foto: Foto: privat)

Horst Jürgen Helle: Ja, sehr. Religion ist stark wie eh und je. Nur eben nicht in Europa. Hier steckt Religion in einer tiefen Krise.

sueddeutsche.de: Warum?

Helle: Das ist eine Folge der Individualisierung. Es gibt einfach kaum noch Verbindlichkeiten gegenüber Gruppen. Von uns Europäern wird erwartet, dass wir alle Probleme mit uns selbst ausmachen.

sueddeutsche.de: Hat die Kirche den Menschen noch was zu bieten?

Helle: Auf jeden Fall. Die Leute sind auf der Suche. Eine Krise bedeutet ja nicht, dass man sich damit einfach abfinden will. Und der Kirchentag ist eine Möglichkeit, für ein paar Tage Gemeinschaft zu erleben - Solidarität als Heilmittel gegen die weit getriebene Individualisierung sozusagen.

sueddeutsche.de: Der Alltagsglaube vieler Menschen vermischt sich immer mehr mit Riten anderer Religionen - gerade der Buddhismus ist besonders in. Ist die Patchwork-Religion der Glaube der Zukunft?

Helle: Auch das ist eine Folge der Individualisierung. Wenn ich im Leben auf mich selbst gestellt bin, muss ich auch auf andere keine Rücksicht nehmen. Und interessanter Weise ist ja gerade der Buddhismus eine sehr individualisierte Religion, wenn man etwa an die Meditationsriten denkt.

sueddeutsche.de: Wie lässt sich die Religionskrise in Europa überwinden?

Helle: Man sollte den Blick über den Tellerrand wagen und sich etwa die Missionarsarbeit in anderen Erdteilen anschauen. Die engen Konfessionsgrenzen, wie wir sie in Europa kennen, spielen kaum noch eine Rolle.

sueddeutsche.de: Liegt die Lösung also in der Ökumene?

Helle: Ja, sicher.

sueddeutsche.de: Papst Benedikt scheint sich dafür aber kaum noch zu interessieren.

Helle: Man tut dem Papst Unrecht, wenn man glaubt, er tue nichts für die Ökumene. Sein Schwerpunkt liegt eben nicht auf der evangelischen, sondern auf der orthodoxen Kirche.

Horst Jürgen Helle ist emeritierter Soziologie-Professor der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied Mitglied der deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Religionssoziologie.

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