Religion:Guter Islam, böser Islam

Muslims attend Eid al-Adha morning prayers

Muslime beten am islamischen Opferfest in der Bait ul-Mokarram-Moschee in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs

(Foto: dpa)

Wer sagt, Terror, Gewalt und die Unterdrückung von Frauen hätten auch mit dem Islam zu tun, gilt schnell als islamophob und fremdenfeindlich. Das schadet einer wichtigen Debatte.

Essay von Markus C. Schulte von Drach

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Was hat das mit dem Islam zu tun? Nach Terroranschlägen durch Islamisten oder den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht sind auf diese Frage vor allem zwei Antworten zu hören.

"Nichts", sagte etwa Innenminister Thomas de Maizière in der SZ nach der Ermordung der Mitarbeiter von Charlie Hebdo in Paris. Das ist auch die Haltung der Vertreter muslimischer Verbände in Deutschland. Ihnen zufolge ist der Islam eine Religion des Friedens.

Aus Teheran ist zu hören, die Terroristen des sogenannten Islamischen Staates seien keine Muslime. Der Islam billige keinen Terrorismus, heißt es in Saudi-Arabien. Und mehr als 100 namhafte islamische Gelehrte aus aller Welt, darunter der ägyptische Großmufti, haben den Islam für "vollkommen unschuldig" an den "wahrhaft barbarischen Handlungen" des IS erklärt.

Auf der anderen Seite gibt es etliche Menschen - darunter auch gläubige Muslime - die das anders sehen, differenzierter. "Wer so tut, als ob Gewalt und Religion nichts miteinander zu tun hätten, der macht sich geradezu lächerlich", sagte etwa Autor Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in der Zeit. "Der europäische Faschismus hatte seine Ursachen auch in der europäischen Geistesgeschichte, und ebenso hat die islamische Spielart des Faschismus Ursachen auch in der islamischen Religion - was natürlich nicht heißt, dass beides identisch ist."

Für Maajid Nawaz, einen britischen Ex-Islamisten und prominenten Politiker der Liberaldemokraten, ist der Islam "keine Religion der Gewalt, aber auch keine Religion des Friedens".

Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Bundestag, "kann es nicht mehr hören", wenn Islamvertreter erklärten, das alles habe nichts mit dem Islam zu tun. Und der Deutschsyrer Bassam Tibi, ehemals Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen und gläubiger Muslim, beschreibt Gotteskrieger als "fromme Muslime". Er weiß, wovon er spricht. Für seine Studien hat er eigenen Angaben zufolge Islamisten in 20 Ländern interviewt.

Wer sich selbst ein Bild davon machen möchte, wie Extremisten ihr Handeln mit der Religion rechtfertigen, kann dies mittels der "Botschaften" von Osama bin Laden und anderen Terroristen tun. Oder er kann in die Schriften von Muslimbrüdern wie Sayyid Qutb oder in das Magazin des sogenannten Islamischen Staates, Dabiq, schauen: Für jede Gewalttat, für jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit berufen sie sich auf Koransuren und Auslegungen des Quellenmaterials.

Suren aus dem Kontext gerissen

Zwar reißen Islamisten immer wieder Suren aus dem Zusammenhang. Verteidiger des Islam tun dies jedoch ebenfalls häufig. Gerne wird etwa die Koransure 5,32 zitiert: "Wer immer einen Unschuldigen tötet, so ist es, als hätte er alle Menschen getötet." Doch dabei handelt es sich nicht etwa um ein allgemeines Tötungsverbot. Der erste, meist ignorierte Teil des Satzes lautet: "Aus diesen Gründen haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben, dass ..." In der folgenden Sure 5,33 sehen Dschihadisten dann wieder eine Rechtfertigung für ihre Gräueltaten: "Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen, dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt, oder dass sie aus dem Land verbannt werden."

Eine weitere Sure (18, Vers 29), die den friedlichen Charakter des Islam belegen soll, lautet: "Wer will, der glaube; wer will, der bleibe ungläubig." Im nächsten Satz heißt es allerdings: "Für die Frevler halten wir (gemeint ist Gott) ein Feuer bereit, das sie ganz einschließt, und rufen sie um Hilfe, dann hilft man ihnen mit Wasser so heiß wie flüssiges Metall, das ihnen die Gesichter brät." Es gehe hier demnach nicht um Glaubensfreiheit, schreibt der Islamwissenschaftler Tilman Nagel von der Universität Göttingen. Es handele sich um eine der vielen Drohreden, die der Koran gegen Andersgläubige richtet. Wenn also Islamkritikern vorgeworfen werden kann, den Koran einseitig zu betrachten, müssen sich jene, die den Islam mit Suren verteidigen, sich diese Kritik genauso gefallen lassen - egal, wie viele dazu geeignete Textstellen zur Verfügung stehen. Das gilt genauso wie für die Bibel, in der das angebliche Wort Gottes einerseits die furchtbarsten Gräueltaten und Sklaverei rechtfertigt, andererseits aber Barmherzigkeit und Nächstenliebe fordert.

Religion wird definiert durch ihre Ausübung

Die Quellentexte, der Koran und die Berichte über Mohammeds Leben, bieten die Möglichkeit, sie verschieden auszulegen. Und eine Religion wird eben "auch dadurch definiert, wie die Gläubigen diese Texte interpretieren - das heißt, durch ihre Ausübung", schreibt der britische Wissenschaftler und Autor Kenan Malik in der New York Times.

Islamistische Extremisten tun letztlich das Gleiche, was auch die islamischen Theologen etwa in Saudi-Arabien oder in Iran machen: Diese verurteilen den IS-Terror zwar als unislamisch. Sie rechtfertigen mit ihrer eigenen Auslegung der islamischen Quellentexte jedoch Enthauptungen, Gliederabtrennung, die Unterdrückung der Frau oder die Ablehnung von Ungläubigen. Irans früheres Staatsoberhaupt Ayatollah Ruholla Khomeini definierte den "Heiligen Krieg" als "Eroberung nichtmuslimischer Territorien".

Für einen Atheisten etwa, der seine Überzeugung öffentlich kundtun möchte, sind die Regierungen in Riad und Teheran nichts anderes als Schreckensherrschaften - mit anderen Worten: Regime des Terrors.

Islamistische Fundamentalisten und Terroristen mögen mit ihrer Interpretation weit weg sein von jener der meisten Muslime weltweit - aber der Islam lässt sich vom Islamismus und dem islamistischen Terror letztlich genauso wenig abtrennen wie Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennungen und Religionskriege vom Christentum.

Hätten Abu Bakr al-Baghdadi und Ayatollah Khomeini nicht den Koran studiert, sondern bei dem Astrophysiker und Schriftsteller Carl Sagan, und hätten Papst Urban II. und Martin Luther sich mehr für Epikur begeistert als für die Bibel, die Welt sehe heute anders aus.

Religion, Kultur und politischer Islam

Der größte Teil der 1,6 bis 1,8 Milliarden Muslime weltweit ist friedlich und muslimische Terroristen waren bis zur Revolution in Iran kaum religiös motiviert. Selbstverständlich führt der Glaube nicht immer zu gewalttätigem Verhalten, noch rechtfertigt er es zwangsläufig. Und Wissenschaftler haben eine Reihe von Faktoren identifiziert, die zum Terrorismus führen können, aber nichts oder nur indirekt mit der Religion zu tun haben.

So ist die arabische islamische Welt nicht nur durch die Religion, sondern auch durch eine Kultur der Ehre geprägt, in der sich viele Araber spätestens seit dem Sechstagekrieg 1967 gedemütigt fühlen, wie Karin Fierke und Khaled Fattah von der britischen St. Andrews University berichten. Die gescheiterte Idee eines säkularen arabischen Nationalismus ist danach durch den Islam als Grundlage für eine länderübergreifende Identität ersetzt worden, die eine globale muslimische Gemeinde postuliert - eine Gemeinde, die seit den Kreuzzügen immer wieder von außen angegriffen und gedemütigt worden sein soll. Als solcher Angriff wurde von manchen Muslimen auch der von den USA angeführte "Krieg gegen den Terror" wahrgenommen. Der Kampf der extremen Islamisten gegen den Westen zielt demnach auch darauf, die "Ehre" der Muslime wiederherzustellen.

Auf dieser Grundlage und auf der Basis von Schriften muslimischer Gelehrter wie Muhammad ibn Abd al-Wahhab, Sayyid Qutb oder dem Gründer der Muslimbrüder, Hassan al-Banna, ist aus dem Islam heraus die Ideologie des "modernen" Islamismus entstanden.

Der Unterschied zwischen beiden ist, sagt der britische Ex-Islamist Nawaz: "Islam ist eine Religion, Islamismus ist eine theokratische Ideologie, die versucht, diese Religion der Gesellschaft aufzuerlegen".

Kritik am Islam ist nicht Kritik an allen Muslimen

Das ist dem in Ägypten geborenen Ex-Muslimbruder und Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad allerdings zu einfach. "Man muss zwischen Muslimen und Islam unterscheiden, aber den Islam nicht reinwaschen wollen", sagte er in der Zeit. Wer - wie viele Muslime es tun - den Koran als direktes Wort Gottes betrachtet, könne ihn eigentlich nicht relativieren. Abdel-Samad fordert von den Muslimen, sich von der Geltung der Texte im Koran zu verabschieden, so wie die meisten Christen sich von den Sätzen des Alten Testaments distanziert haben. Und Mohammed müsse als historischer Mensch mit Schwächen betrachtet werden.

Dass Abdel-Samad diese in seinem Buch "Mohamed" provokant beschreibt, muss viele gläubige Muslime vor den Kopf stoßen. Abdel-Samads wissenschaftliche Integrität und Kenntnis über den Islam könne man ihm deshalb aber nicht absprechen, bescheinigt ihm der muslimische Theologe Abdel Hakim Ourghi von der Pädagogischen Hochschule Freiburg in der Zeit.

Diffamierte Islamkritiker

Wer aber im Westen Islamismus und Terror mit dem Islam in Verbindung bringt, konservative Muslime kritisiert und von den Gläubigen eine deutlichere Distanz zu den Originalquellen fordert, ist in Gefahr, als "islamophob, unsozial oder sogar gefährlich" diffamiert zu werden. Und zwar nicht nur von gläubigen Muslimen, sondern auch von vielen Linksliberalen, klagt die iranische Bürgerrechtlerin Maryam Namazie.

"Was die 'Linken' übersehen", schreibt Namazie im Guardian, sei, dass in der muslimischen Welt "im Kern ein Kampf stattfindet zwischen Theokraten und der religiösen Rechten einerseits und Säkularisten und jenen, die für soziale Gerechtigkeit andererseits kämpfen." Anstatt die fortschrittlichen Kräfte in den muslimischen Gemeinden zu stärken, werfe ein Teil der Linken den "Schleier des Respekts vor der anderen Kultur" über die Missstände und die Ablehnung der Werte wie Freiheit und Gleichheit, die dort zum Teil herrschten.

Sie ist mit ihrem Frust darüber nicht allein. So fordert die offen lesbische kanadische Muslimin Irshad Manji, dass Nichtmuslime im Westen endlich ihr Schweigen und ihre Selbstzensur brechen sollten. "Multikulturalismus kann von Nichtmuslimen nicht länger wörtlich genommen werden."

Auch Samuel Schirmbeck, zehn Jahre in Nordafrika Korrespondent der ARD, kritisierte jüngst in der FAZ die "liebedienerische Haltung des hiesigen linken Spektrums gegenüber jedwedem Obskurantismus", sobald dieser nur das Etikett "muslimisch" trage. Anstatt den muslimischen Aufklärerinnen und Aufklärern zur Seite zu springen, dresche die deutsche Linke seit fünfzehn Jahren auf sie ein und beschuldige sie, Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten zu liefern.

Den Widerstand gegen Islamkritik bekommt in Deutschland besonders Hamed Abdel-Samad zu spüren. Er nimmt bei seiner Kritik keinerlei Rücksicht. Dafür muss er, dessen Leben von Islamisten bedroht wird, sich gefallen lassen, in einer deutschen Zeitung als "Islamhasser" bezeichnet zu werden. Für die muslimische Religionspädagogin Lamyar Kaddor gehört er zu den "willfährigen Helfern der Islamisten" bei deren Versuch, einen Keil zwischen Muslime und Nichtmuslime zu treiben. Sie zählt die Islamkritiker zu einer "islamfeindlichen Szene". Viele Linke werfen Abdel-Samad außerdem vor, dass er Einladungen zu Vorträgen bei der AfD annimmt, obwohl diese fremdenfeindlich ist. Man kann das kritisch sehen - auch wenn er sich deutlich von den Positionen der Partei distanziert.

"Autoritärer Traum" oder "liberaler Traum"

Aber Abdel-Samad ist nicht fremdenfeindlich, genauso wenig wie Islamkritiker und muslimische Dissidenten wie Necla Kelek, Seyran Ateş oder Mina Ahadi in Deutschland, oder Taslima Nasrin, Maryam Namazie, Alil Sina, Rafiq Tağı (ermordet), Asif Mohiuddin und die vielen in Bangladesch attackierten und teils ermordeten Atheisten, Ashraf Fayadh und Raif Badawi, Salman Rushdie oder die viel kritisierte Ayaan Hirsi Ali. Das gilt ebenso für atheistische Religionskritiker wie Michel Onfray, Richard Dawkins, Christopher Hitchens, Sam Harris, Oriana Fallaci oder die Redakteure und Zeichner von Charlie Hebdo.

Muslime ersetzen bei ihnen nicht die Position des "Fremden", wie bei den fremden- und muslimfeindlichen Rechten. Sie träumen, anders als AfD, Pegida und andere Rechte, Evangelikale, Salafisten, Putin oder Orbán nicht den "autoritären Traum", sondern den "liberalen Traum", wie ihn der Historiker Philipp Blom beschreibt. Sie kämpfen nicht für angeblich christlich-abendländische Werte. Sie setzen sich ein für Menschen- und Frauenrechte, Meinungs - und Religionsfreiheit. Es sind die humanistischen Werte, die im Westen gegen den Widerstand der Kirchen und Konservativen bitter erkämpft wurden, fasst etwa Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime ihre Ziele zusammen. Diese Werte müssten nun auch gegen konservative Vertreter des Islam verteidigt werden.

Relativierung der europäischen Werte

Seit Jahren fordert deshalb der syrisch-deutsche Islamwissenschaftler Bassam Tibi für Europa eine "auf den europäischen Wertvorstellungen basierende Hausordnung", auf der Basis säkularen Rechts und der individuellen Freiheit. Viele muslimische Migranten brächten eine eigene Leitkultur mit - die Scharia -, deren Geltung in Europa sie im Namen von Multikulturalismus und Vielfalt fordern. Diese Scharia-Leitkultur aber sei mit den Wertvorstellungen eines demokratischen Europas unvereinbar. Dass manche Europäer die europäischen Werte im Namen der Toleranz relativieren, sieht auch er deshalb als Risiko.

Wie konnte es dazu kommen? Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel von der Universität Göttingen erklärt dies damit, dass in unserer säkularisierten Gesellschaft die Religion an Bedeutung verloren hat. Viele Menschen betrachten Religion als Privatsache, schließen von sich auf andere und unterstellen diese Haltung auch Menschen, die aus anderen Gesellschaften einwandern. Seiner Meinung nach hat sich in Teilen der Öffentlichkeit deshalb eine falsche Vorstellung von einer Grenze zwischen Islam und Islamismus entwickelt.

Verschiedene Umfragen unter Muslimen in Deutschland, Europa und der Welt deuten darauf hin, wie durchlässig diese Grenze sein kann. So halten nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2015 etwa 90 Prozent der sunnitischen Muslime in Deutschland die Demokratie zwar für eine gute Regierungsform. Eine Untersuchung der Hamburger Universität für die Bundesregierung hatte 2007 allerdings gezeigt, dass etwa 47 Prozent der befragten Muslime die Befolgung der religiösen Gebote für wichtiger hielten als die Demokratie. Liegt hier ein Widerspruch vor oder eine Priorisierung?

In einer Umfrage, die das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2013 veröffentlicht hat, stimmten sogar 65 Prozent der in Europa befragten Muslime türkischer und marokkanischer Herkunft der Aussage zu, dass religiöse Regeln wichtiger seien als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. (Unter den Christen waren das immerhin auch 13 Prozent.)

In Gallup-Umfragen, die zwischen 2001 und 2007 in 35 Staaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung - von der Türkei über Saudi-Arabien bis Indonesien - durchgeführt wurden, gab in den meisten Ländern die Mehrheit an, eine Form der Scharia sollte eine oder sogar die einzige Quelle der Gesetzgebung sein. Zugleich sprachen sich jedoch mehr als 90 Prozent dafür aus, die Meinungsfreiheit in der Verfassung zu verankern, und viele wünschten sich Religions- und Versammlungsfreiheit sowie mehr Unabhängigkeit für Frauen.

In der Vorstellung, wie die Gesellschaft aussehen sollte, finden sich bei vielen Muslimen demnach jedenfalls auch wichtige Aspekte des Islamismus wieder. Auf der anderen Seite ist allerdings auch eine Mehrheit der US-Amerikaner überzeugt davon, dass die Bibel eine Quelle der Gesetzgebung sein sollte, schreibt Steven Pinker von der Harvard University in seinem Buch "Gewalt". Religion, so der Evolutionspsychologe, gedeihe auf wolkigen Allegorien, einer emotionalen Bindung an Texte, die niemand lese, und anderen Formen der gutartigen Heuchelei. Wie die Anhänglichkeit der Amerikaner an die Bibel, so sei auch die Anhänglichkeit der meisten Muslime an die Scharia wahrscheinlich eher ein symbolisches Festhalten an moralischen Einstellungen, die sie mit den besten Seiten ihrer Kultur in Verbindung bringen. Das bedeute nicht, sie hätten den buchstäblichen Wunsch, Ehebrecherinnen gesteinigt zu sehen.

"In der Praxis haben kreative, pragmatische Lesarten der Scharia mit liberaler Stoßrichtung häufig gegenüber der unterdrückenden, fundamentalistischen Interpretation die Oberhand behalten", so Pinker. "Vermutlich ist das der Grund, warum die meisten Muslime zwischen Scharia und Demokratie keinen Widerspruch erkennen."

Das ist ein Teil der Realität - ein anderer Teil sind aber die im Namen der Religionen missachteten Menschenrechte und verübten Verbrechen. Religiöse Dissidenten wie Hamed Abdel-Samad, Maajid Nawaz oder Ayaan Hirsi Ali sowie unterdrückte Minderheiten in muslimischen Ländern fordern deshalb energisch eine Reform des Islam dort, wo er ihrer Meinung nach etwa der Gleichberechtigung der Frau und der Religions- und Meinungsfreiheit entgegensteht oder gewaltbereiten Islamisten ihre Rechtfertigungen zu liefern scheint.

Ist ihre Forderung anmaßend? Genauso anmaßend wie es der dreihundert Jahre währende Kampf für die universellen Menschenrechte gegen die Überzeugung der Mehrheit der gläubigen Christen in Europa war. Und nicht anmaßender als die Forderung, alle Menschen müssten die universellen Menschenrechte in Anspruch nehmen dürfen, wie sie die Charta der Vereinten Nationen formuliert.

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