Reich-Ranicki greift Günter Grass an:"Ein ekelhaftes Gedicht"

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Eine Größe des literarischen Nachkriegsdeutschland liest der anderen die Leviten: Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki attackiert den Schriftsteller Günter Grass wegen dessen israelkritischen Gedichts. Grass stelle die Welt auf den Kopf, wenn er Israel im Streit mit Iran zum Agressor erkläre. Das sei ein Schlag gegen alle Juden. Auch Außenminister Westerwelle schaltet sich in die Debatte ein. Er wirft Grass vor, die Gefahr aus Iran zu verharmlosen.

Wenn es um Literatur ging, waren sie selten einer Meinung. Jetzt geht es um Weltpolitik und Marcel Reich-Ranicki greift den Schriftsteller Günter Grass wegen dessen Gedicht Was gesagt werden muss scharf an. Der Text sei eine Gemeinheit, "ein ekelhaftes Gedicht", sagte der bekannteste Literaturkritiker des Landes der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Grass stelle "die Welt auf den Kopf", sagte Reich-Ranicki: "Der Iran will Israel auslöschen, das kündigt der Präsident immer wieder an, und Günter Grass dichtet das Gegenteil."

Für Reich-Ranicki ist das Gedicht ein Schlag nicht nur gegen den Staat Israel, sondern gegen alle Juden. "Wenn Palästinenser oder Araber gegen Israel hetzen, ist das ja nichts Besonderes, aber wenn ein Günter Grass es tut und so scharf gegen die Juden vorgeht, dann ist das natürlich ein Ereignis." Anders als von Grass behauptet, gebe es in Deutschland gar kein Tabu, dass Israel nicht kritisiert werden dürfe, sagte Reich-Ranicki.

FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher kommentierte auf Twitter, er habe den Kritiker noch nie so erlebt. Reich-Ranicki behauptet auch, dass Grass das Gedicht bewusst zum jüdischen Pessach-Fest veröffentlicht habe. Einen ähnlichen Vorwurf hatte bereits der Gesandte Israels in Berlin erhoben.

Westerwelle kritisiert Grass

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat Grass' Kritik an Israels Haltung im Atomkonflikt mit Iran zurückgewiesen. "Israel und Iran auf eine gleiche moralische Stufe zu stellen, ist nicht geistreich, sondern absurd", schrieb der FDP-Politiker in einem Gastbeitrag für Bild am Sonntag, ohne konkret auf das jüngste Gedicht des Schriftstellers einzugehen. Der Streit mit der Regierung in Teheran sei "keine Spielwiese für Polemik, Ideologie und Vorurteile, sondern bitterer Ernst".

Der Iran treibe sein Nuklearprogramm ungeachtet der internationalen Kritik voran. Das Land habe zwar das Recht auf eine zivile Nutzung der Atomenergie, nicht aber das Recht auf atomare Bewaffnung, argumentiert der Minister. Wer die von Iran ausgehende Bedrohung verharmlose, "verweigert sich der Realität".

Rückendeckung bekommt Grass hingegen von seinem Schweizer Kollegen Adolf Muschg. Der Antisemitismus-Vorwurf gegen den Literaturnobelpreisträger sei "so absurd unbillig und unverhältnismäßig, dass man über die fast geschlossene Front gegen den Autor nur staunen kann", schreibt Muschg in der Schweizer Zeitung Der Sonntag. Seine Kritiker würden Grass "für etwas geißeln, was er nicht geschrieben hat". Grass werde die Kompetenz abgestritten, Kritik an Israel zu üben. "Warum", fragt Muschg, "drückt sich die deutschsprachige Reaktion fast einhellig vor der Frage, ob sich diese Kritik denn erledigt hat? Und womit hat ein Autor wie Grass das Recht verwirkt, sich weltbürgerlich zu äußern?" Muschg urteilt: "Das dröhnende Schweigen" zeige, "dass die Selbstgefälligkeit nicht nur auf seiner Seite" sei.

Am Mittwoch hatte Grass ein israelkritisches Gedicht in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Darin wirft er dem jüdischen Staat vor, den Weltfrieden zu gefährden. Er könnte mit einem nuklearen Erstschlag "das iranische Volk auslöschen".

In teils heftigen Reaktionen warfen Kritiker Grass daraufhin vor, gegen Israel zu hetzen, indem er die Bedrohung des Landes durch Iran verharmlose und im Gegenzug Israel zum Aggressor erkläre. Grass konterte, die Kritik an ihm sei Zeichen einer "Gleichschaltung der Meinung".

Auch Antisemitismus wurde ihm vorgeworfen. Selbst der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu griff das Thema auf. Er verurteilte das Gedicht und wies, wie andere Kommentatoren, darauf hin, dass Grass als 17-Jähriger in der Waffen-SS war.

Reich-Ranicki gehört wie Grass zu den Größen des Literaturbetriebs im Nachkriegsdeutschland. Zum Bruch zwischen beiden war es 1995 gekommen. Damals hatte Ranicki Grass' Buch Ein weites Feld negativ besprochen - und das Buch öffentlichkeitswirksam auf dem Titelbild des Spiegel in zwei Teile gerissen. Reich-Ranicki stammt aus einer jüdischen Familie im polnischen Włocławek. Den Holocaust überlebt er im Warschauer Ghetto.

Bisher wurde die Debatte über Grass' Gedicht mit Worten geführt. In Göttingen haben Unbekannte ein Denkmal beschmiert, das Grass vor einem Jahr gestiftet hatte. Auf dem Sockel einer Plastik, die auf dem Universitätscampus an die "Göttinger Sieben" erinnern soll, schmierten Unbekannte "SS! Günni Halts Maul". Die Polizei ermittelt wegen Sachbeschädigung. Die Stahlskulptur erinnert an sieben Göttinger Professoren, die 1837 gegen die Aussetzung der Ständeversammlung durch König Ernst August von Hannover protestiert hatten und daraufhin entlassen wurden.

Positive Reaktionen hat das Gedicht in Iran ausgelöst. In einem Brief an den "bedeutenden Schriftsteller" lobte Vize-Kulturminister Dschawad Schamakdari den 84-Jährigen, er habe mit seinem Gedicht seine menschliche und historische Verantwortung vorbildlich erfüllt und "die Wahrheit gesagt". Er hoffe, die Kritik werde "das eingeschlafene Gewissen des Westens aufwecken", schrieb Schamakdari. "Ich habe Ihr warnendes Gedicht gelesen, das auf so großartige Weise Ihre Menschlichkeit und Ihr Verantwortungsbewusstsein zum Ausdruck bringt. Mit ihrer Feder allein können Schriftsteller Tragödien eher verhindern als Armeen."

In Deutschland überwog auch am Osterwochenende die harsche Kritik an den Zeilen des Schriftstellers. Der Schweizer Historiker Raphael Gross bezeichnete das Gedicht als "Hassgesang". Dennoch sei es nicht leicht, Grass als Antisemiten zu bezeichnen, schrieb Gross in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung vom Samstag. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Begriff des Antisemitismus sei von Anfang an äußerst unklar und eng gefasst gewesen.

© Süddeutsche.de/jab/dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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