Regierungserklärung vor EU-Gipfel:Klare Worte in "gelegentlich hysterischen Zeiten"

  • In ihrer Regierungserklärung vor dem EU-Gipfel in Brüssel gibt sich Kanzlerin Merkel ungewohnt empathisch.
  • "So etwas gibt es in der Welt nur einmal", sagt sie über die europäische Mischung aus Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Sicherung.
  • Dann kommt sie auf die kritischen Themen. Eines davon: das Verhältnis zur Türkei.
  • Vor der Erklärung der Kanzlerin gibt Bundestagspräsident Lammert dazu eine Klarstellung ab, die auch schon wie eine Regierungserklärung klingt.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Planmäßig sollte der Bundestag am Donnerstagmorgen mit einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin beginnen. So kam es aber nicht. Bevor Bundestagspräsident Norbert Lammert das Wort an Angela Merkel übergab, hob er selbst zu einer "Klarstellung" an, die sich allerdings wie eine vorgezogene Regierungserklärung anhörte.

Das sah wohl auch Merkel so, als sie nach einiger Wartezeit endlich selbst an das Mikrofon treten durfte, mit einem so schnippischen Lächeln in den Mundwinkeln, dass sich Lammert gezwungen sah zu versichern, seine Rede sei ja keine Regierungserklärung gewesen.

Lammert hatte nicht über Europa gesprochen, sondern über das deutsch-türkische Verhältnis. Der scheidende Bundestagspräsident stellte in fünf Punkten ruhig und bestimmt klar, wie mit den türkischen Wünschen nach Wahlkampfauftritten in Deutschland umgegangen werden sollte. Es waren die Worte, die Merkel seit dem Nazi-Vergleich des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht gefunden hatte.

Lammert machte die Werte deutlich, die Deutschland zu verteidigen hat, und er gab einen Weg vor, wie diese Verteidigung erfolgen kann, ohne das komplizierte deutsch-türkische Verhältnis weiter zu belasten. Wer "dieses Land" öffentlich verdächtige, Nazi-Methoden anzuwenden, disqualifiziere sich selbst. In diesen "gelegentlich hysterischen Zeiten" könne sich jeder sein eigenes Bild machen, wo Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit herrschten.

Und weil diese Rechte "bei uns nicht zur Disposition stehen", bat Lammert um Verständnis, dass man sie auch anderen gewähre. Zugleich bat er "ausländische Regierungen", die diese Rechte in Deutschland in Anspruch nehmen, sie auch im eigenen Land zu garantieren. Und weil hier in Deutschland jeder seine Meinung sagen könne, werde es sich Deutschland nicht nehmen lassen, darauf hinzuweisen, wohin sich die Türkei entwickle, "zu einem autokratischen Staat, der sich immer weiter von Europa entfernt".

Erst danach bat Lammert die Kanzlerin nach vorne. "Jetzt die Regierungserklärung."

Lob des freien Handels

Merkel lieferte eine Mischung aus Lob und Forderung. Sie gab sich vor ihrer Abreise zum Europäischen Rat nach Brüssel ungewohnt empathisch. Europa könne stolz sein auf die einzigartige Mischung von Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Sicherung. "So etwas gibt es in der Welt nur einmal." Es gab Lob für EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Und Lob auch für dessen Stellvertreter Frans Timmermans.

Und dann kamen die Aufgaben, die alle Europäer zu lösen haben. Die Welt verändere sich rasant, getrieben von Globalisierung und Digitalisierung. Europa müsse das mitgestalten, nicht reagieren, und die eigenen Werte einbringen. "Dazu gehört selbstverständlich eine freie Handelspolitik."

Deutschland sei "darauf angewiesen, nicht nur den Zugang zum Binnenmarkt zu haben, sondern auch zu globalen Märkten". Europa dürfe sich nicht einigeln, abschotten oder zurückziehen. "Wir sollten auch mit anderen Partnern Verhandlungen fortführen."

"Diese Vergleiche müssen aufhören"

Dann gab es wieder Lob von der Kanzlerin, dieses Mal für die Flüchtlingspolitik, bei der es große Fortschritte gebe. Aber eben auch noch viel zu tun im Asylrecht, bei den Rückführungen, beim Abschluss von Flüchtlingsabkommen mit Drittländern. Nur mit solchen Abkommen könne langfristig Migration effektiv bekämpft werden.

Merkel nannte das Türkei-Abkommen als Vorbild für die avisierten Abkommen mit Staaten Nordafrikas. "Solche Vereinbarungen sind im Interesse aller", sagte sie. "Die Menschen müssen ihre Heimat nicht verlassen. Europa bekommt weniger Flüchtlinge. Drittstaaten müssen die mafiösen Schlepperbanden nicht mehr fürchten."

Erst nach diesem Lob kam Merkel auf den in den vergangenen Tagen eskalierten Streit zwischen Berlin und Ankara zu sprechen. Mit keinem anderen Land habe Deutschland so komplizierte wie tiefgreifende Beziehungen. Umso trauriger seien die Äußerungen des türkischen Präsidenten. "Nazivergleiche sind so deplatziert, dass man sie gar nicht kommentieren will", sagte sie. "Diese Vergleiche müssen aufhören."

Zugleich machte sie deutlich, dass es trotz aller Schwierigkeiten nicht im deutschen Interesse sein könne, "dass sich die Türkei, immerhin ein Nato-Partner, weiter von uns entfernt". Es lohne sich also, an den Beziehungen zu arbeiten. Und Merkel stellte klar: "Auftritte sind weiter möglich, sofern sie rechtzeitig, vertragsgemäß uns mit offenem Visier angekündigt werden."

Merkel preist Europa als Erfolgsgeschichte

Unmittelbar vor ihrer Reise am Montag zu US-Präsident Trump ging Merkel auch auf die transatlantischen Beziehungen ein. Zwar ändere sich gerade deren Charakter. "Das ändert aber nichts an der überragenden Bedeutung für uns", gab sich Merkel zuversichtlich. Und weil sich der Charakter ändere, habe Europa sich entschlossen, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen. Europa müsse künftig "zu eigenständigem Krisenmanagement in der Lage sein", und zwar nicht gegen die Nato, sondern komplementär zu dem Militärbündnis.

Am Ende ging sie noch einmal auf die Zukunft Europas ein. Dass es unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Gemeinschaft gebe, sei völlig normal, sagte sie. Wenn einige Staaten bei Themen wie Euro, Schengen oder anderswo schon vorangingen, sei das stets einladend gemeint, nicht ausschließend. Merkel erinnerte an "unsere Werte" wie das grenzkontrollfreie Reisen, Binnenmarkt, Freundschaft, Nachbarschaft. "Es gibt keine Region in der Welt, die eine solche Erfolgsgeschichte für sich verbuchen kann."

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