Reformation:Überwinden

Kirchen sind Gemeinschaften der Erinnerung. Was daraus folgt.

Von Matthias Drobinski

Bald 500 Jahre ist es nun her, dass Papst Leo X. Martin Luther einen Ketzer nannte und Martin Luther den Papst den Antichrist; 400 Jahre sind vergangen, seit sich Wallensteins und Tillys Landsknechte gegenseitig aufspießten und die Bauern, die sie plünderten, gleich mit. Sollen sich die Kirchen dafür entschuldigen, im September 2016? Ist das nicht arg spät, verkrampft - und in einer Welt, die kaum noch zwischen evangelisch und katholisch unterschieden kann, so gut gemeint wie bedeutungslos?

Ist es nicht. Zum einen sind die christlichen Kirchen Erinnerungsgemeinschaften; sie leben aus ihrer Überlieferung heraus. Zu dieser Erinnerung muss aber auch das Gedenken an das Abgründige und Gewalttätige gehören, das geschah. Wer das ausblendet, verdrängt. Und wer verdrängt und nur gut dastehen will vor der Geschichte, der wird krank. Leid kann nur überwunden werden, wenn man sich seiner erinnert.

Und so lange ist es ja auch noch nicht her, dass eine Evangelische gefälligst keinen Katholischen heiraten sollte, dass Schulkinder konfessionell getrennte Pausenhofecken hatten und jedermann wusste, dass Katholiken falsch und Protestanten humorlos sind. Das Echo des Mordens von einst hallt als Vorurteil bis in die Gegenwart - und lässt erschrecken: So dünn ist das Eis der Toleranz und so zerbrechlich. Wer sich nicht erinnern mag und die totale Gegenwart für bequemer hält, vergisst das leicht.

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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