Referendum in Großbritannien:Brexit-Debatte ist so emotional wie Boxen

"Du solltest Dich schämen, Boris": Bei der TV-Debatte gehen die Brexit-Gegner den prominenten Austritts-Verfechter Boris Johnson direkt an. Auch im Publikum geht es hoch her.

Von Björn Finke, London

Der größte Jubel des Abends gilt ihm: "Dieser Donnerstag kann der Unabhängigkeitstag unseres Landes werden", sagt Boris Johnson in seinem Schlussplädoyer. Begeistertes Johlen, stehender Beifall in der Halle neben dem Wembley-Stadion, wo die BBC 6000 Zuschauer zur "Great Debate" eingeladen hat, der letzten großen Fernseh-Diskussion vor der Volksabstimmung an diesem Donnerstag. Umfragen sagen voraus, dass die Briten mit einem hauchdünnen Vorsprung der EU die Treue halten. Da kann so eine Debatte vielleicht noch einen Unterschied machen.

Johnson, der frühere Londoner Bürgermeister, ist der populärste Vorkämpfer für einen Brexit, den Austritt des Landes aus der EU. Doch am Dienstagabend ist nicht er der Star der fast zweistündigen Veranstaltung. Der Konservative wiederholt die üblichen Parolen des Brexit-Lagers und bekommt erwartungsgemäß viel Applaus im Publikum, das die BBC öffentlich-rechtlich ausgewogen zur Hälfte mit Austritts-Freunden und -Gegnern besetzt hat.

Mehr Eindruck als Johnson machen aber zwei Politiker, die für den Verbleib kämpfen ­- und die Johnson hart angehen. Das sind sein Nachfolger als Bürgermeister, Sadiq Khan von der Labour-Partei, sowie Ruth Davidson, Chefin der Konservativen in Schottland und Parteifreund Johnson in tiefer Abneigung verbunden. Die beiden werden ebenfalls mit viel Jubel bedacht, vor allem Khan, der in dem Londoner Vorort eine Art Heimspiel bestreitet. Insgesamt stehen drei Vertreter jeden Lagers auf der Bühne.

Khan zeigt sich leidenschaftlich

Davidson etwa bringt Johnson ins Schwitzen, als sie aus einem Interview mit ihm im März zitiert. In dem schloss er aus, dass die Türkei bald der EU beitritt. Jetzt hingegen droht Johnson, dass so etwas möglich sei, weswegen Großbritannien am besten die Union verlassen solle. Die schlagfertige Politikerin fragt, was ihn denn zu seinem abrupten Meinungswechsel bewogen habe.

Khan wiederum legt einen sehr leidenschaftlichen Auftritt hin. Anfangs wirkt er nervös, auch später spricht er in der Hitze der Wortgefechte manchmal zu schnell und undeutlich. Aber er wirkt ehrlich aufgebracht, als er Johnson vorwirft, Angst vor Einwanderern zu schüren. Die Brexit-Kampagne sei ein "Projekt Hass" - eine Anspielung darauf, dass Austritts-Fans Warnungen vor den Folgen eines Brexit stets als "Projekt Angst" abtun, als reine Angstkampagne. Riesen-Jubel dafür. "Du solltest Dich schämen, Boris", fügt Khan noch hinzu.

Wann es hoch her geht in der Brexit-Debatte

Ohnehin spricht Khan seinen Vorgänger den ganzen Abend hindurch direkt an, fast schon penetrant: Boris, Boris, Boris. Damit beim Fernseh-Publikum bloß kein Zweifel bleibt, wem die Angriffe gelten. Vor zwei Wochen schon fand eine Drei-gegen-Drei-Debatte im Fernsehen statt, auch mit Johnson. Da bündelte das EU-Lager ebenfalls sein Feuer auf Johnson, versuchte, die Glaubwürdigkeit des beliebten Brexit-Befürworters zu erschüttern.

Die 6000 Zuschauer in der Halle tun ihr Möglichstes, ihre Seite vorne auf der Bühne zu unterstützen. Selbst viel zu oft gehörte, lahme Argumente werden beklatscht; zwischenzeitlich wirkt der Lärmpegel so, als übertrage die BBC einen spannenden Boxkampf aus einer Arena voller enthusiastischer Fans. Der Moderator muss das Publikum zur Ruhe auffordern.

Wirtschaft oder Einwanderung - was zählt mehr?

Besonders hoch her - auf der Bühne wie im Saal ­- geht es im mittleren Teil der Debatte, als die Politiker über Einwanderung diskutieren. Das ist das wichtigste Thema der Brexit-Kampagne. Die Austritts-Freunde argumentieren - durchaus korrekt -, dass Großbritannien nur außerhalb der EU Kontrolle über seine Grenzen und die Zahl der Migranten hat. Viele Briten finden, dass zu viele Osteuropäer auf der Insel leben.

Die EU-Fans hingegen stützen ihre Kampagne auf das Argument, dass die Mitgliedschaft in der Union dem Land wirtschaftlich nutze und ein Austritt eine schwere Krise zur Folge haben könnte. Wie die Bürger am Donnerstag abstimmen, wird also stark davon abhängen, ob ihnen das Thema Wirtschaft oder Einwanderung mehr am Herzen liegt.

Kurz vor dem Ende der Debatte unterbricht Khan eine Mitstreiterin von Johnson auf der Bühne mit einem emotionalen Ausruf. Die Politikerin beklagt sich gerade wieder über die Unzulänglichkeiten der EU, als Khan brüllt: "Wir bleiben und kämpfen, wir geben nicht auf." Der Bürgermeister will die Probleme der EU von innen lösen und bezichtigt das Brexit-Lager des Kleinmuts.

Wie mutig oder kleinmütig die Wähler sind, wird sich am Freitag zeigen, wenn die 382 Stimmbezirke ausgezählt sind.

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