Referendum in der Türkei:"Wie ich mich fühle? Ich denke, wir wurden betrogen!"

People protest against the results of the referendum in Istanbul

Erdoğan-Gegner demonstrieren auf den Straßen Istanbuls gegen das Referendum.

(Foto: REUTERS)

Sie verlieren die Hoffnung, sind überrascht oder wollen die Türkei noch nicht aufgeben. Acht Stimmen zum Referendum aus Deutschland und der Türkei.

Protokolle: Deniz Aykanat, Carolin Gasteiger und Julia Ley

Fatih Zingal, stellvertrender Vorsitzender der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten

"Die überwältigende Mehrheit der deutschtürkischen Wähler, etwa Zweidrittel, hat für die Verfassungsänderung gestimmt. Mir liegt es sehr am Herzen, dass man diese Menschen als das sieht, was sie sind. Der Großteil dieser Menschen gehört zur Mitte der deutschen Gesellschaft: der Bäcker von nebenan, die Studentin, der Arzt, der Arbeitskollege, die Schneiderin. Man sollte sie nicht dämonisieren und sie nicht als Antidemokraten darstellen, wie einige das nun tun. Sie sind keine Antidemokraten. Im Gegenteil! Sie erhoffen sich durch diese Verfassungsreform eine demokratischere und stabilere Türkei.

Ein Aspekt im Zusammenhang des Referendums ist in der deutschen Öffentlichkeit untergegangen: Viele der Deutschtürken, die für eine Verfassungsänderung sind, haben sich nicht getraut, dies in der Öffentlichkeit oder im näheren Umfeld kundzutun. Sie haben Angst, als Gegner der Demokratie zu gelten. Zudem befürchten sie ausgegrenzt zu werden. Das besonders Tragische dabei ist, dass diesen Menschen der Vorwurf, demokratiefern zu sein besonders weh tut, weil sie mit ihrem Ja eine fortschrittlichere und demokratischere Türkei wollen. Der Gedanke, dass diese Menschen eine Diktatur wollen, ist absurd.

Auch ich habe mich für ein Ja ausgesprochen. Warum? Die Parlamentarische Demokratie ist ein sehr gutes System. Beispielsweise in Deutschland hat dieses System Wohlstand und stabile politische Verhältnisse gebracht. Doch für die Türkei ist die Präsidialdemokratie ähnlich wie in den USA die bessere Regierungsform. Zwischen 1991 und 2002 gab es in der Türkei neun Koalitionsregierungen. Aufgrund der fehlenden Konsenskultur zwischen den Parteien in der Türkei kam es immer wieder zum Bruch der Koalitionsregierungen und infolgedessen zu Wirtschaftskrisen.

An diese Zeit haben sich die Türken nach der Wahl im Juni 2015 erinnert, als die AK-Partei nicht mehr die absolute Mehrheit hatte. Die Parteien konnten sich nicht auf eine Koalitionsregierung einigen. Die Türkei hatte instabile politische Verhältnisse und ein verlorenes halbes Jahr bis zur nächsten Wahl. Deshalb ist die Zustimmung für die Präsidialdemokratie in der Türkei so hoch. Der türkische Wähler hat sich entschieden und diese Entscheidung sollte man respektieren."

"Viele Deutschtürken haben ein Türkei-Bild, das nicht mehr der Realität entspricht"

Elif Cındık-Herbrüggen, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Praxis in München Riem

"Ich bin total überrascht. Ich habe eher mit einem eindeutigeren Ergebnis von 60 zu 40 Prozent für das Ja-Lager gerechnet. Obwohl der Wahlkampf der Opposition unterbunden wurde, haben trotzdem so viele Menschen mit Nein gestimmt. Ich habe noch große Hoffnungen für das türkische Volk.

Die Situation ist aber jetzt trotzdem sehr kritisch, Präsident Erdoğan sprach kurz nach dem verkündeten Wahlsieg schon gleich wieder von der Einführung der Todesstrafe. Ich wünschte, er würde jetzt besonnen reagieren. Jetzt, wo er doch alles erreicht hat, was er möchte, auf dem Zenit seiner Macht ist. Er müsste die Menschen jetzt einen und mit Vernunft regieren. Die Türkei könnte aber nicht gespaltener sein. Das Verhältnis zu Deutschland und Europa hat massiv gelitten. Erdoğan muss die Leute von der Opposition mit einbeziehen. Die AKP muss für das ganze Land regieren und der Ausnahmezustand muss beendet werden.

Ich leite mehrere Gruppentherapien mit türkischen Frauen und Männern. Unser Ärzteteam hat beschlossen, dass wir das Thema Referendum aus dem Therapiezentrum verbannen. Die Menschen gehen sonst unnötig auf wie Germknödel. Politik dient ihnen als Ventil, um von ihren eigentlichen Problemen, Ängsten und Gefühlen abzulenken. Natürlich dürfen sie darüber sprechen, wie es mit der Türkei weitergeht, aber sie sollen sich nicht gegenseitig angreifen, weil sie unterschiedliche politische Ansichten haben. Sie sollten sich um ihre individuellen Schicksale hier in Deutschland kümmern.

Ich glaube, dass darin auch der Grund liegt, warum in Deutschland lebende Türken für Erdoğan stimmen. Da geht es nicht wirklich um konkrete Politik, das ist vielmehr ein Statement. Ich denke, dass diejenigen die für Erdoğan sind, sich in Deutschland als unterdrückte Minderheit fühlen. Viele haben vielleicht Sehnsucht nach der Heimat, fühlen sich vergessen von der Politik. Erdoğan ist der erste, der dem Westen ungeniert die Meinung sagt. Das würden sie ihren Vorarbeitern auch gerne mal sagen. Die Kritiker der Verfassungsreform wurden eingeschüchtert und ausgegrenzt.

Im östlichen Kulturkreis ist die Fähigkeit offen zu kritisieren und Kritik anzunehmen leider nicht besonders ausgeprägt. Ich muss das in der Gruppentherapie auch immer wieder erklären, dass persönliche Kritik nicht per se etwas Negatives ist, sondern auch bedeutet, dass der andere sich für einen interessiert.

Die Türken in Deutschland haben ganz andere Probleme und Wünsche als die in der Türkei. Hier geht es um Diskriminierung, gleiche Chancen und Vertrauen, in der Türkei ums Überleben. Das sind ganz andere Lebenswirklichkeiten. So lässt sich vielleicht auch erklären, warum es von den türkischen Wählern in der Diaspora in Deutschland so viel mehr Zustimmung für Erdogan gab als in der Türkei. Ich sehe das bei meinen Patienten. Viele haben ein Bild von der Türkei, das gar nicht mehr der Realität entspricht. Und manche erfüllen sich den Traum von der Rückkehr in die alte Heimat - und kehren dann doch wieder desillusioniert nach Deutschland zurück."

"Der große Verlierer ist die AKP"

Eren Güvercin, freier Journalist und Autor aus Köln

"Das Ergebnis verwundert nicht, weil es im Wahlkampf nie um die Inhalte der Verfassungsänderung ging, sondern darum die Unterstützer des Nein-Lagers kollektiv als Terroristen, Verräter, Ungläubige und Agenten zu verteufeln. Dafür wurde alles missbraucht: die Religion, verstorbene politische Größen von Atatürk bis Erbakan, der Nationalismus und die Legende, man sei das auserwählte Volk.

Der größte Verlierer dieses Referendums ist die AKP selbst. Denn die AKP regierte lange Jahre mit einer für die Türkei sehr ungewöhnlichen Mehrheit, weil sie die tiefen Gräben in der türkischen Gesellschaft überbrücken konnte. Die AKP stand dafür, Tabus zu brechen und Konflikte zu lösen, die das Land seit langem lähmten. Mittlerweile ist die AKP an einen Punkt gelangt, wo sie alle wichtigen politischen Positionen über Bord geworfen hat. Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren immer mehr Persönlichkeiten innerhalb der AKP aussortiert wurden, die die Partei in den Anfangsjahren maßgeblich mitprägten. Zurückgeblieben ist ein Kreis opportunistischer Politiker, Unternehmer und Holdingbesitzer, die zu 100 Prozent unterwürfig sind und zu allem Ja und Amen sagen. Nicht weil sie Erdoğan oder die Partei schätzen oder von der Politik überzeugt sind, sondern weil sie wie Apparatschiks nur eins im Sinn haben: sich den vorhandenen Strukturen und Verhältnissen anzupassen und sich ihnen anzudienen, um möglichst großen Profit daraus zu schlagen.

Erin

Erin Güvercin lebt in Köln

(Foto: privat)

Lange war unklar, ob die Wähler mehrheitlich mit Ja oder Nein stimmen werden. Der Anteil der Unentschiedenen war bis zuletzt hoch. Die meisten Unentschiedenen haben sich offenbar für kurzfristige politische Stabilität entschieden. Denn viele Türken befürchteten, dass eine Ablehnung der neuen Verfassung das Land ins Chaos stürzen würde, was die wirtschaftliche Stabilität gefährdet hätte. Vermutlich haben sich viele Menschen deshalb, trotz ihrer enormen Bedenken, für ein Ja entschieden.

Trotz dieses Sieges ist eins sicher: Die politische Zukunft der Türkei bleibt fragil und unklar, auch wenn nun faktisch alle Macht in den Händen einer Person gebündelt ist. In naher Zukunft könnte das dazu führen, dass sich eine alternative politische Partei neben der AKP formiert. Die Frage wird sein, ob es dafür im neuen Präsidialsystem einen Raum geben wird. Der Wahlkampf der vergangenen Monate deutet eher darauf hin, dass eine neue politische Kraft sofort als ein Projekt der 'Kreuzfahrer im Westen' dämonisiert würde. So würde sich ein Kreis schließen.

Denn als Erdoğan 2001 mit seinem politischen Mentor Erbakan brach und eine eigene Partei gründete, verteufelte dieser seinen politischen Ziehsohn. Erdoğan habe mit der Unterstützung der USA die islamische Bewegung in der Türkei gepalten. Nun ist Erdoğan am selben Punkt angekommen. Hinter jedem Kritiker, hinter jedem Oppositionellen wittert er Machenschaften des feindlichen Westens. Wie Erbakan kann es auch Erdoğan ergehen, eine neue politische Bewegung kann die alte ablösen. Sollte es dazu kommen, hätte die AKP ihr eigenes Schicksal besiegelt."

"Was mich noch trauriger macht: Es gibt nichts, was ich tun kann"

Didem Yoruk, Vertriebsleiterin, lebt seit zehn Jahren in Istanbul

"Wie ich mich fühle? Ich denke, wir wurden betrogen, im großen Stil! Zuallererst hat es noch nie eine Abstimmung gegeben, die in nur vier Stunden ausgezählt wurde, das ist physikalisch gar nicht möglich. Wenn man an den Brexit und die US-Wahl denkt, beide dauerten bis in die frühen Morgenstunden an, bevor das Ergebnis verkündet wurde. Dann wurde im letzten Moment das Gesetz geändert, sodass unoffizielle Stimmzettel als gültig akzeptiert wurden. Wie ist das möglich? Das war eine große Manipulation und die Hälfte von uns ist dazu gezwungen, mit dieser Entscheidung zu leben. Ich bin außer mir vor Wut.

Jeder hat mit einem Ja gerechnet, weil alle wussten, dass manipuliert werden würde, aber ein großer Teil in mir glaubte dennoch, dass das Nein siegen würde. Ich bin furchtbar traurig über den Betrug, die Lügen und die Täuschung. Ich bin halber Expat. Aufgewachsen bin ich in Kanada, aber die letzten zehn Jahre habe ich in Istanbul gelebt. Nun bin ich wirklich geschockt und, was mich noch trauriger macht: Es gibt nichts, was ich tun kann.

Die Türkei wird nicht mehr das Land sein, das es war und ich habe Angst davor, was die nächsten Jahre bringen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, aus Istanbul wegzuziehen, weil es meine Heimat geworden ist, aber nun brauche ich einen Backup-Plan für meine Zukunft.

Die Türkei muss aufwachen und weiter dafür kämpfen, was rechtens ist. Wie das funktionieren wird, weiß ich nicht. Aber wir können diese Lüge nicht zu unserer Wahrheit werden lassen."

"Die Türkei hat verloren"

Fatih Çevikkollu, Kabarettist aus Köln mit türkischen Wurzeln

"Das Referendum ist zu Ende und das knappe Ergebnis steht fest. Der Wahlkampf voller Drohungen und Beschimpfungen war beschämend.

Ich bin gegen das Präsidialsystem, weil ich die türkische Bevölkerung für intelligent und stark genug halte, mit einer freien Presse und einer unabhängigen Justiz umzugehen. Mit Meinungsfreiheit und einer richtiger Demokratie.

Nicht ein Mann sollte die ganze Macht im Land haben, sondern das Volk und ihre gewählten Vertreter im Parlament.

Ich verstehe, warum ein Erdoğan von vielen gewählt wird. Seit seinem Amtsantritt haben sich die Lebensumstände in der Türkei verbessert. Die Löhne sind gestiegen, die Gesundheitsversorgung ist besser als vor zwanzig Jahren. Aber das alles kann nicht drüber hinwegtäuschen, dass das Volk gespaltener ist als jemals zuvor. Die Presse ist eingeschüchtert, viele Journalisten sitzen im Gefängnis, darunter der Türkei-Korrespondent Deniz Yücel. Der Krieg gegen die PKK ist wieder aufgeflammt. Außenpolitisch ist man fast isoliert.

Ändern wird sich trotzdem nichts. Erdoğan hat wie ein Sultan das Land regiert und wird es weiterhin tun. Jetzt mit der offiziellen Bestätigung des Volkes. Und ausgerechnet die Türken in Europa waren dabei das Zünglein an der Waage.

Überall und zu jeder Zeit haben Menschen für mehr Demokratie und für mehr Freiheit gekämpft. Die Türkei hat das alles mit ihrem Ja aufgegeben und die Reste der Demokratie, die noch übrig waren, damit beerdigt. Es war eine Schicksalswahl und ihr Schicksal haben sie in die Hände eines einzigen Mannes gegeben. Einem Politiker.

Nie daran gedacht, was passiert, wenn er einmal weg ist? Wer als nächstes kommt? Ob Ihr Ihn wollt? Ob er Euch will?

Politiker sollten austauschbar sein. Beamte. Gewählte Vertreter. Keine Götter und keine Überväter. Diese Zeiten sollten lange vorbei sein. Die Amerikaner haben sich gegen den gesunden Menschenverstand entschieden, die Engländer gegen die EU und die Türkei gegen die Demokratie. Erdoğan hat gewonnen. Die Türkei hat verloren."

"Ich will die Türkei noch nicht aufgeben"

Onur Altay*, Politikwissenschaftler aus München

"Ich dachte, dass es noch knapper wird: 51 zu 49. Aber mir war klar, dass Erdoğan gewinnt. Ich habe mich trotzdem gefreut, dass es dann wirklich so knapp ausging für ihn. Und das, obwohl Ausnahmezustand herrscht und der Wahlkampf unfair war. Vor allem die produktivsten und am meisten bevölkerten Teile der Türkei, wie die Ägäis oder Istanbul haben mit Nein gestimmt. Das lässt hoffen, dass mit der Zeit der Widerstand dort gedeiht. Es hängt alles von den kommenden Wahlen 2019 ab. Sie sind die letzte Chance, auf demokratischem Weg für Wandel zu sorgen.

Und der Abend gestern hat noch etwas gezeigt: Je höher die Wahlbeteiligung desto größer die Chance, dass Erdoğan verliert. Man muss noch mehr Leute an die Wahlurnen bringen. Und vergessen wir nicht: Die Türkei ist ein Land mit einer jungen Bevölkerung, immer mehr 18-Jährige können wählen. Je höher die Bildung und der Grad der Verstädterung, desto schwerer wird es für Erdoğan deren Stimme zu gewinnen.

Ich will die Türkei jedenfalls noch nicht aufgeben. Ich kann mir sogar vorstellen, vielleicht einmal dort zu arbeiten. Die Türkei bleibt ein strategisch wichtiges Land, also wird es dort immer Job-Möglichkeiten geben. Und Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen sind gefragt. Ich sehe es auch als eine persönliche Mission: Atatürk hat einst einen Appell an die Jugend gerichtet, dass sie ihr Wissen in den Dienst ihrer Nation stellen sollen.

Von Deutschland aus ist es einfach, sich über die Verhältnisse in der Türkei aufzuregen. Wenn man dieses Land, die Türkei, wirklich liebt, muss man auch bereit dazu sein, sich vor Ort einzusetzen. Flucht ist für mich keine dauerhafte Lösung. Ich denke, viele Menschen, vor allem in den türkischen Großstädten sind gebildet genug, damit man dort an einer neuen besseren Zukunft für die Türkei arbeiten kann. Also sage ich, warum nicht?"

"Die EU muss aufhören, Geld an die Türkei zu zahlen"

´Anne Will"

Seyran Ates, im April 2017 bei Anne Will.

(Foto: dpa)

Seyran Ateş, Rechtsanwältin und Autorin, die zwischen der Türkei und Deutschland pendelt

"Der Wahlausgang macht mich traurig und betroffen. Ich weiß nicht, ob ich selbst noch in die Türkei fahren kann, ob ich meine Kanzlei dort fortführen kann. Die Türkei wäre ein paradiesisches Land, wenn es ein demokratischer Staat wäre. Ich bin zwar niedergeschlagen, aber ich habe auch geahnt, dass es so ausgehen wird. Aber dass es so knapp ausgegangen ist, dass das Ja-Lager die Gegner nur so knapp überholt hat, liegt an der Wahlmanipulation. Unter anderem auch an der legalen Wahlmanipulation. Indem die ungültigen Stimmen als gültig gezählt wurden - und zwar als Ja.

Die allermeisten Menschen, die in Europa für ihn gestimmt haben, fühlen sich diskriminiert und benachteiligt. Ihnen hat Erdoğan eine Identität gegeben, nämlich der starke Türke zu sein, auch wenn man in Deutschland ist.

Was mich beunruhigt, ist folgendes: Der erste Akt nach dem Referendum war die Siegesfeier des Erdoğan-Lagers. Aber gleich der zweite war die Ankündigung, die Todesstrafe wiedereinführen zu wollen, wenn es sein muss, erneut per Referendum. Allein die Diskussion darüber ist ein Signal, dass sich die Türkei von Europa verabschiedet. Die EU muss endgültig ihrer Verpflichtung nachkommen und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen. Das hätte sie schon längst tun sollen. Aber das wird nicht ausreichen. Die EU muss, ebenso wie europäische Unternehmen, aufhören, Geld an die Türkei zu zahlen. Erst dann, wenn er seine Vorhaben nicht mehr finanzieren kann, wird Erdoğan innehalten. Und sein Regime scheitert erst dann, wenn er das nicht finanzieren kann.

Aber ich mache auch der Opposition große Vorwürfe, weil die in den vergangenen Jahren zu wenig realisiert haben. Sie haben sich nicht darauf konzentriert, was das Volk will. Und was die Korruption betrifft, stehen sie der Regierung in nichts nach. Ich glaube nicht, dass in der Türkei ein Opposition existiert, die diesen Apparat abschaffen wird."

"Die Türkei hat eigentlich Nein gesagt"

Rosa Burç, Politikwissenschaftlerin an der Uni Bonn

Rosa

Rosa Burç lebt in Köln.

"Am Abend, als das Ergebnis allmählich feststand - 51 Prozent für ein Ja - war die Stimmung unter den Teilnehmern einer Konferenz, auf der ich war, merkwürdig einstimmig: Die Türkei hat eigentlich Nein gesagt. Und das ist ein gleichzeitig gutes und schlechtes Gefühl. Die Regierung, die ja alle Ressourcen in einen völlig ungleichen Wahlkampf investiert hat und gleichzeitig mit einer Hexenjagd auf Andersdenkende und Sendezensur für Oppositionelle für ein Ja geworben hat, hat trotzdem nur 51 Prozent bekommen. Andauernd kommen neue Berichte über offene Stimmabgaben, Verhaftungen von Wahlbeobachtern und enorme Polizei- und Militärpräsenz.

Und trotzdem: Gerade die kurdischen Gebiete, in denen die demokratisch gewählten Bürgermeister durch Statthalter der Regierung ersetzt wurden oder ganze Landstriche bei Militäroperationen zerstört wurden, haben mit Nein gestimmt. Das macht Mut. Es zeigt, dass es noch einen Widerstand gibt und Menschen bereit sind, sich für eine demokratische Türkei einzusetzen.

Darunter mischt sich aber auch ein Gefühl von Ohnmacht: Es kann nicht wahr sein, dass 51 Prozent ausreichen sollen. Das zeigt doch, wie undemokratisch solche Referenden sind. Neue Verfassungen sollten nicht nach Mehrheitsprinzipen entschieden werden. So eine grundlegende Änderung, die jeden betrifft, müsste im Konsens beschlossen werden. Stattdessen gab es Gesetzesverstöße und Manipulation überall, Wahlurnen wurden heimlich verlegt, unversiegelte Abstimmzettel gezählt. Das sind unmögliche Vorkommnisse. Wir, die ein Interesse an einer demokratischen Türkei haben, wussten auch schon vorher, dass diese Abstimmung unfair ist. Alleine wenn man bedenkt, dass die Ko-Vorsitzenden der drittgrößten Oppositionspartei, HDP, immer noch im Gefängnis sitzen.

Hinter all dem könnte aber noch eine größere Taktik der Regierung stecken: Erdoğan versucht alles, um uns die Hoffnung zu nehmen. Als 2015 gewählt wurde und das Linksbündnis HDP es geschafft hat die Zehn-Prozent-Hürde zu knacken, war das ein Hoffnungsschimmer für viele. Partizipative Politik und echte Repräsentation schienen möglich. Zum ersten Mal haben sich Menschen wie ich politisch vertreten gefühlt. Man muss dazu wissen, dass meine Mutter eine armenische Türkin aus Zentralanatolien ist, mein Vater dagegen jesidischer Kurde aus einer Stadt an der türkisch-syrischen Grenze. Dann bin ich auch noch eine Frau. Ich bin ich also immer eine Minderheit unter Minderheiten gewesen.

Im Grunde ist meine Identitätskonstellation nichts weiter als ein Abbild des vielfältigen Mosaiks, dass es ja eigentlich schon immer in der Region gab. Und damals hatte ich zum ersten Mal diese Hoffnung: Eine pluralistische Türkei ist auch politisch möglich. Die Regierung hat alles darangesetzt, uns diesen Hoffnungsschimmer zu nehmen - durch das Schüren eines unheimlichen Nationalismus, eines Freund-Feind-Schemas, durch offene Exekutionen auf der Straße. Uns soll die Hoffnung genommen werden. Das ist mein Gefühl. Das ist die Taktik. Das Referendum war nur ein weiterer Versuch.

Diesmal ist die Mehrheit nur mit einem Prozent Vorsprung noch einmal auf den nationalistischen Zug aufgesprungen. Sie haben darin offenbar die Pflicht gesehen, ihren türkischen Nationalstolz zu verteidigen. Und die türkische Nation zu beschützen. Dabei müssten wir uns doch fragen, was diese "türkische Nation" eigentlich sein soll. Denn gerade die sehr enge Definition der "türkischen Nation" ist doch der Geburtsfehler dieser Republik. Die Hoffnung, dass wir diesen Fehler vielleicht überwinden können ist noch nicht verloren. Auch wenn Erdoğan jetzt wieder gezeigt hat, dass wir noch einen sehr langen Weg haben."

* Name von der Redaktion geändert

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: