Rederecht im Bundestag:Wenn die Debatte zur Plauderstunde verkommt

Auf die heftige Kritik folgte eine 180-Grad-Wende: Union, FDP und SPD wollen das Rederecht im Bundestag nun doch nicht ändern - vorerst zumindest. Dabei gäbe es einiges zu diskutieren. Weniger das Verhalten von Bundestagspräsident Norbert Lammert als vielmehr den mangelnden Anstand einiger Parlamentarier - vor allem der Linken.

Thorsten Denkler

Dem Sturm der Entrüstung wollte sich dann doch keiner mehr entgegenstellen. Und so verlautbarten die Parlamentsgeschäftsführer von Union und FDP im Bundestag, Peter Altmaier und Jörg van Essen, an diesem Montag, eine Entscheidung in der Sache sei bisher nicht gefallen und werde "kurzfristig auch nicht erfolgen".

Ihre Idee, das Rederecht im Bundestag zu überarbeiten, hat ihnen umgehend den Vorwurf eingebracht, einen Maulkorb-Erlass für widerspenstige Abgeordnete vorbereiten zu wollen. Einige Abgeordnete - vor allem jene, die in der Euro-Frage als besonders widerspenstig galten - drohten gar mit Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, sollte eine Änderung des Rederechts kommen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung beschränke.

Sollte das je der Plan gewesen sein, ist er jetzt wohl vom Tisch. Zunächst "würden keine Änderungen der geltenden Geschäftsordnung beschlossen", unterstrichen Altmaier und van Essen. Ziel sei eine Lösung, die "dem freien Mandat des Abgeordneten und der Arbeitsfähigkeit des Parlaments in gleicher Weise Rechnung trägt".

Aufschluss in Paragraf 27

Fragt sich nur, ob eine Lösung gefunden werden muss, wo es grundsätzlich gar kein Problem gibt. Auslöser des Streits ist die Plenar-Debatte um den Euro-Rettungsschirm vom 22. September 2009. Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte damals einige Abweichler aus Union und FDP reden lassen und damit auf eigene Faust die Rednerliste erweitert. Der liberale Euro-Rebell Frank Schäffler war das bekannteste Beispiel.

Lammert war damit durchaus eine Überraschung gelungen, die in der Geschichte des Bundestags einmalig war. Dabei konnte sich der CDU-Politiker auf die Geschäftsordnung des Bundestags berufen. In Paragraf 27 ist klar geregelt, wer reden darf: "Ein Mitglied des Bundestages darf nur sprechen, wenn ihm der Präsident das Wort erteilt hat." Und: "Mitglieder des Bundestages, die zur Sache sprechen wollen, haben sich in der Regel bei dem Schriftführer, der die Rednerliste führt, zum Wort zu melden."

In Paragraf 28 lautet der erste Satz sogar: "Der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Redner." Er soll dabei "Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen" nehmen. "Insbesondere soll nach der Rede eines Mitgliedes oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen."

Davon, dass Fraktionen die Rednerliste bestimmen, steht da nichts. De facto aber ist das Teil des Gewohnheitsrechts. Jede Fraktion bekommt je nach Stärke eine gewisse Redezeit zugeschrieben. Die wird dann fraktionsintern auf die von der Fraktionsspitze bestimmten Redner aufgeteilt.

In der Euro-Debatte vom vergangenen September hatten die Fraktionsspitzen von Union und FDP nicht im Traum dran gedacht, die sogenannten Abweichler ans Pult zu lassen. Das ist durchaus nachvollziehbar. In der Öffentlichkeit haben ihre Stimmen breit Gehör gefunden. Sie haben keine Talkshow ausgelassen und in jedes Mikrofon gesprochen, dass ihnen hingehalten wurde.

Nehmen, was man kriegen kann

In ihren Fraktionen aber gehören sie zu einer zahlenmäßig unbedeutenden Minderheit. Wäre der Gruppe der Abweichler gemessen an ihrer tatsächlichen Stärke Redezeit eingeräumt worden, sie hätten vielleicht ein paar Sekunden sprechen können. Kaum genug, um einen vollständigen Satz vorzubringen.

Dass sie dennoch zu Wort kamen, ist eine Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse, die viele Parlamentarier nicht hinnehmen wollen. Gleiches gilt für das Verhalten von Abgeordneten der Linken. Auch hier wollten die Parlamentarischen Geschäftsführer von Union und FDP ein Zeichen setzen.

Es geht um die Regeln der "Erklärung zur Abstimmung". Gemäß Paragraf 31 der Geschäftsordnung kann jedes Mitglied des Bundestages zur abschließenden Abstimmung eine kurze mündliche Erklärung abgeben, die in das Plenarprotokoll aufzunehmen ist. Altmaier und van Essen wollten durchsetzen, dass solche Erklärungen nur noch schriftlich und nur in Ausnahmen mündlich erfolgen sollen.

Um fast eine Stunde verlängert

Auch hier geht es um eine Abweichler-Regelung. Wer sie nutzen will, muss dafür keine Gründe angeben. Es entspricht jedoch ihrem Geist, dass von dem Instrument nur solche Abgeordnete Gebrauch machen, die mit der Fraktionsmeinung nicht übereinstimmen und das Bedürfnis haben, ihre abweichende Meinung vor der Öffentlichkeit darzulegen.

Abgeordnete der Linken führen diesen Geist seit einiger Zeit ad absurdum. Frei nach dem Motto "Nehmen, was man kriegen kann" haben allein nach der Euro-Abstimmung am 29. September elf Abgeordnete der Linken persönliche Erklärungen abgegeben - nur um noch einmal zu erklären, dass sie voll und ganz einverstanden sind mit der Fraktionslinie.

Über Jahrzehnte gut funktioniert

Fünf Minuten räumt die Geschäftsordnung jedem Abgeordneten dafür ein. Die Linke hat damit ihre Gesamtredezeit in der Debatte kurzerhand um fast eine Stunde verlängert. Es mag ihr gutes Recht gewesen sein. Doch FDP-Generalsekretär Patrick Döring sieht darin einen klaren Missbrauch des Instrumentes.

Zwingende Gründe für Änderungen an der Geschäftsordnung aber ergeben sich daraus nicht. Über Jahrzehnte hat das Rederecht gut funktioniert. In der Euro-Debatte wurden seine Grenzen ausgereizt und von manchen auch überschritten. Der Parlamentarismus ist dadurch aber noch lange nicht in Gefahr.

Dennoch: Die Debatte steht vorerst nur auf Wiedervorlage. Beendet ist sie nicht. Der nächste Vorstoß könnte auf die Rechte des Bundestagspräsidenten abzielen. Schließlich war es Norbert Lammert, der den Zorn der Koalitionsfraktionen auf sich gezogen hatte.

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