"Rede zur Lage der Nation" des US-Präsidenten:Obama umwirbt den gesunden Menschenverstand

Mindestlohn, Einwanderungsreform und moderne Bildung: Barack Obama erklärt, wie er die US-Wirtschaft in Schwung bringen will. Auch wenn er beim Klimawandel notfalls allein handeln will, ist sein Ton gegenüber den Republikanern versöhnlich. In Erinnerung bleiben nur die letzten Minuten, in denen er emotional über Amerikas Waffen-Obsession spricht.

Von Matthias Kolb, Washington

Seit Wochen schon ist Barack Obama bester Laune. Nach seiner Wiederwahl wirkt der US-Präsident deutlich gelöster. Seine Umfragewerte klettern und er wähnt die Mehrheit der Amerikaner hinter sich. Entsprechend selbstsicher steht er am Rednerpult des Kongresses und präsentiert den 435 Abgeordneten und 100 Senatoren sowie vielen Ehrengästen seine alljährliche "Rede zur Lage der Nation". Doch trotz Obamas rhetorischen Talents dauert es mehr als 50 Minuten, bis sich jener besondere Moment ereignet, der über den Tag hinaus Wirkung entfalten könnte. Viele Themen hat der 51-Jährige bereits abgearbeitet, ehe er auf die Folgen der Waffengewalt in Amerika zu sprechen kommt.

Obama erinnert an den Massenmord an 20 Grundschülern und sechs Erwachsenen in Newtown - er hat den 14. Dezember 2012 mehrfach als den "schlimmsten Tag" seiner Amtszeit bezeichnet. Er erinnert an die 15-jährige Hadiya Pendleton, die bei seiner Amtseinführung auftrat und wenige Tage später in Chicago erschossen wurde. Sichtlich bewegt sagt Obama: "Das geschah eine Meile von meinem Haus entfernt."

Kriegswaffen sollen von den Straßen Amerikas verschwinden

Seit Newtown seien mehr als tausend Amerikaner mit einer Waffe getötet worden: "Es sind mehr als tausend Geburtstage, Schulabschlüsse und Jahrestage, die uns genommen wurden." Dann spricht er über die Vorschläge, über die Senat und Repräsentantenhaus nun debattieren. Die Käufer von Gewehren und Pistolen sollen strikt kontrolliert und Scheinverkäufe strenger verfolgt werden sowie "große Magazine und Kriegswaffen" aus Amerikas Straßen verschwinden.

Obama blickt zu seiner Frau Michelle, die neben zwei Afroamerikanern sitzt: "Die Eltern von Hadiya Pendleton verdienen es, dass darüber abgestimmt wird." Unter donnerndem Applaus erinnert er an die bei einem Attentat verwundete frühere Abgeordnete Gabby Giffords, die es wie "die Familien von Newtown, Aurora, Oak Creek und Tucson" verdient haben, dass die Abgeordneten darüber abstimmen. Der US-Präsident baut den Gegnern der Verschärfung, die es auch bei den Demokraten gibt, eine Art Brücke: Sie könnten mit "Nein" votieren, aber sie sollten sich bekennen.

"Let's get this done"

Es ist dieser Passus in dem einstündigen Vortrag, den der neue Chef-Redenschreiber Cody Keenan für Obama verfasst hat (nähere Infos über den 32-Jährigen bei The Atlantic), der in Erinnerung bleiben wird. Er deutet auch an, welche Strategie das Weiße Haus in den kommenden Wochen verfolgen wird. Es ist kein Zufall, dass der Präsident den stärksten Part der Rede mit "Let's get this done" (auf Deutsch "Lasst uns das anpacken") beendete. Die gleichen Worte verwendet Gabby Giffords, die nach dem Attentat erst wieder sprechen lernen musste, in einem eindrucksvollen Video-Clip, der zurzeit in Amerika zu sehen ist.

Sehr genau wurde auch registriert, dass der Präsident das bei den Republikanern umstrittene Verbot von Sturmgewehren nicht explizit ansprach. Dies lässt vermuten, dass das Weiße Haus nicht mit einer Mehrheit für diesen Vorschlag rechnet - und unnötige Provokationen ausbleiben sollten. Im Vergleich zu seiner Rede nach der zweiten Vereidigung als Präsident im Januar tritt Obama nun weniger triumphierend auf und umwirbt die Republikaner, die im Repräsentantenhaus die Mehrheit stellen, etwas mehr.

"Die Verfassung macht uns nicht zu Rivalen"

Gleich zu Beginn zitiert er John F. Kennedy, der 1962 erklärte: "Die Verfassung macht uns nicht zu Rivalen um die Macht, sondern zu Partnern für den Fortschritt." Alle in Washington wüssten, dass die am 1. März fälligen Haushaltskürzungen der US-Wirtschaft, dem Militär und Amerikas Ansehen in der Welt schaden würden, so Obama. Er sei zu einem Kompromiss bereit und wiederholt sein Mantra, der Schuldenberg müsse nicht allein durch Kürzungen, sondern auch durch Mehreinnahmen abgebaut werden.

Diese State of the Union Address erinnert stark an die Wahlkampfauftritte des Kandidaten Obama. Gewiss, anders als bei der Rede zum Amtsantritt geht er stärker in die Details, doch fast alle seine Vorschläge sind bekannt - und werden von den Republikanern abgelehnt. Der US-Präsident will frühkindliche Bildung fördern, Schulen modernisieren, den Mindestlohn auf neun US-Dollar pro Stunde erhöhen und in Straßen und Brücken investieren. Erneut wirbt Obama für eine Einwanderungsreform und nennt als Zugeständnis an die Republikaner als ersten Punkt eine strengere Sicherung der Grenzen - eine konservative Kernforderung.

Unter professionellen Obama-Beobachtern wie Politik-Professor Larry Sabato und Ryan Lizza vom New Yorker steht dennoch schnell fest: Es ist eine Wunschliste des progressiven Amerikas.

Es ist eine Strategie, die der US-Präsident zuletzt immer wieder angewandt hat: Er appelliert an den gesunden Menschenverstand der Amerikaner, der sich Lösungen wünscht. Er setzt darauf, dass es in den Ohren der Mehrheit der Bevölkerung vernünftig klingt, nicht nur Staatsprogramme zu kürzen, sondern auch die Wohlhabenderen durch das Schließen von Steuerschlupflöchern zur Kasse zu bitten.

Obama weiß, dass er im Haushaltsstreit bessere Karten hat als die dauerblockierenden Hardliner der Republikaner: Gibt es keinen Kompromiss, stehen die Konservativen als Schuldige da. Also ruft er aus: "Es kann nicht sein, dass das großartigste Land der Welt ständig von einer selbst gemachten Krise zur nächsten taumelt." Subtil stellt er die Republikaner als Teil des Problems dar - und umwirbt jene Koalition aus liberalen Großstädtern, Latinos, College-Absolventen, Homosexuellen und Afroamerikanern, die ihn ins Weiße Haus gewählt hat.

Handelt der Kongress nicht beim Klima, handelt Obama allein

Und gerade sie hören mit großer Freude, was Obama zum Klimawandel sagt. Hier verpasst er den Konservativen einen Seitenhieb: Natürlich sei es möglich zu glauben, dass es nur Zufall sei, dass die zwölf heißesten Jahre aller Zeiten seit 1997 gemessen worden seien und sich immer öfter Stürme und Dürren ereigneten. "Wir können auch an das überwältigende Urteil der Wissenschaft glauben - und handeln, bevor es zu spät ist", sagt Obama. Dies sei die jetzige Generation nicht nur den "Kindern und Enkeln" schuldig": Hunderttausende Amerikaner könnten in diesem Zukunftsbereich neue Jobs finden und den Rückstand auf andere Nationen verkürzen. Den Kongress fordert Obama auf, entsprechende Gesetze zu erlassen - ansonsten werde er mit Dekreten selbst einschreiten.

Da der inhaltliche Schwerpunkt auf Wirtschaftsfragen und der emotionale auf der amerikanischen Waffen-Obsession liegt, bleibt für Außenpolitik wenig Zeit. Wie bereits vorab berichtet, werden in diesem Jahr 34.000 US-Soldaten aus Afghanistan zurückkehren; daneben richtet der US-Präsident warnende Worte an Nordkorea wegen des jüngsten Atomtests und versichert Israel der amerikanischen Unterstützung. Er erneuert das Versprechen, Iran mit allen Mitteln daran zu hindern, in den Besitz einer Atomwaffe zu kommen. Mit der Europäischen Union soll über ein Freihandelsabkommen verhandelt werden.

"Retter der Republikaner" entzaubert sich selbst

Wenige Minuten, nachdem Obama seine Rede beendet hat und noch fleißig Hände schüttelt und Autogramme schreibt, wendet sich Senator Marco Rubio aus Florida an die Amerikaner. Der 41-Jährige ist der neue Hoffnungsträger des konservativen Amerika (mehr in diesem Süddeutsche.de-Porträt) und darf in diesem Jahr auf den Präsidenten antworten.

Rubio versucht das Vorurteil zu entkräften, dass sich die Republikaner nur um die Interessen der Reichen kümmern würden: "Ich lebe in der gleichen Nachbarschaft, in der ich aufgewachsen bin. Da wohnen keine Millionäre, sondern hart arbeitende Amerikaner." Der Senator erzählt von seinen Eltern, die aus Kuba in die USA kamen und ihm mit harter Arbeit den Aufstieg ermöglicht hätten. Er wolle das Medicare-Programm so reformieren, dass es künftigen Generationen die gleichen Leistungen biete wie seinen Eltern: "Mein Vater konnte so in Würde sterben und meine Mutter wird heute dadurch versorgt."

An anderen Stellen wirkt Rubio weniger souverän, etwa wenn er Obama holzschnittartig vorwirft, dieser sehe die freie Marktwirtschaft als Wurzel aller amerikanischen Probleme. Es ist eine stets undankbare Aufgabe, auf die "Rede zur Lage der Nation" reagieren zu müssen, doch dem sonst so glänzenden Selbstvermarkter Marco Rubio unterläuft ein Patzer. Nach etwa zehn Minuten taucht er kurz nach unten, greift eine Wasserflasche, trinkt hektisch und spricht dann weiter.

Nicht nur Mike Allen, Washingtons wohl einflussreichster Journalist, ist sich sicher: Dies ist der einzige Moment, der von dieser Rede bleiben wird - und wahrscheinlich werde der Senator in wenigen Tagen bei "Saturday Night Live" auf die Schippe genommen. Auch bei Twitter ist der Spott groß, dass der "Retter der Republikaner" (Time) sich ein wenig entzaubert hat.

Für Barack Obama war der Arbeitstag nach der Rede noch nicht zu Ende. In einem Telefongespräch, das die neue, offiziell unabhängige Unterstützerorganisation "Organizing for Action" organisiert hatte, bat er seine Anhänger darum, ihm bei der Durchsetzung seiner Agenda zu helfen. Der Demokrat will im ganzen Land für seine Themen werben: In den kommenden drei Tagen wird er eine Autoteile-Fabrik in North Carolina besuchen, sich in Georgia über frühkindliche Erziehung informieren und in seiner Heimatstadt Chicago über Waffengesetze reden.

Auch wenn er nie wieder um ihre Stimmen werben wird, werden die Amerikaner noch genug Gelegenheit haben, Obama außerhalb Washingtons in typischen Wahlkampfsituationen zu erleben. Nur wenn die Wähler ihre Forderungen deutlich formulieren und die Abgeordneten mit Anrufen und E-Mails bombardieren, so das Kalkül des Weißen Hauses, sei der Widerstand der Republikaner im Repräsentantenhaus zu brechen.

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