Rede zur Europäischen Union:Cameron sollte Churchill lesen!

David Cameron Großbritannien Premier EU Europa Union

Der Premierminister ist zu schwach, um seine vielleicht hundert antieuropäischen Hinterbänkler im Unterhaus kontrollieren zu können.

(Foto: dpa)

Großbritanniens Konservative haben sich in ihrer Europakritik verrannt. Inmitten der schwersten europäischen Krise verliert sich die Partei in ideologischen Wunschwelten. Die Taktik von Premier David Cameron ist gefährlich. Für Großbritannien und die EU.

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer

Ketten pflegen in der Regel am schwächsten Glied zu reißen, wenn man sie über Gebühr belastet, das gilt im übertragenen Sinne auch für die EU. Und so ging alle Welt wie selbstverständlich davon aus, dass Desintegrationsprozesse in der EU beim schwächsten Glied in der Kette beginnen würden, vor allem also im krisengeschüttelten europäischen Süden, in Griechenland, Portugal oder Spanien. Dies war ein Irrtum. Denn zum Erstaunen der Beobachter spricht alles dafür, dass die europäische Kette nicht an ihrem schwächsten Glied reißen könnte, sondern da, wo die Irrationalität herrscht - an Großbritannien also.

Ausgerechnet Großbritannien. Ausgerechnet das Mutterland des Pragmatismus und Realismus, das Land einer unerschütterlichen Festigkeit in seinen Grundsätzen und zugleich der hohen Anpassungsfähigkeit an veränderte Umstände, das Land, das in stoischer Ruhe sein Empire aufgegeben hat, nachdem es zuvor allein und später mit seinen Alliierten Europas Freiheit gegen Nazi-Deutschland erfolgreich verteidigt hatte. Ausgerechnet dieses Land verliert sich jetzt, inmitten der schwersten europäischen Krise, in den ideologischen Wunschwelten einer euroskeptischen Konservativen Partei.

Hundert antieuropäische Hinterbänkler im Unterhaus

Denn es haben sich ja gar nicht die Interessen des Landes gewandelt, es haben sich auch nicht die Interessen innerhalb der EU fundamental verschoben. Die Probleme haben ausschließlich parteipolitische und wahltaktische Gründe: Der Premierminister ist zu schwach, um seine vielleicht hundert antieuropäischen Hinterbänkler im Unterhaus kontrollieren zu können. Denn die Tory-Partei fürchtet den Aufstieg der noch europakritischeren UK Independent Party. Die kann zwar bei Wahlen nicht gewinnen, könnte den Torys aber so viele Stimmen auf dem rechten Flügel abnehmen, dass Labour davon Vorteil hätte.

David Cameron, der Premierminister, lässt verlauten, er wolle ja gar nicht aus der EU austreten, sondern lediglich neu verhandeln und dann das britische Volk über einen Verbleib in der EU abstimmen lassen. Der Premierminister scheint hier einer doppelten Illusion zu folgen: erstens, dass er den Weg in eine Volksabstimmung tatsächlich wird kontrollieren können; zweitens, dass die EU tatsächlich einen neuen Vertrag mit Großbritannien aushandeln könnte und wollte, der Cameron substantiell entgegenkäme.

Austritt Großbritanniens wäre ein herber Rückschlag

Doch es spricht vieles dafür, dass der Referendumskurs der britischen Konservativen eine nur noch schwer zu beherrschende Dynamik auslösen wird, die auch in einem nicht gewollten Austritt Großbritanniens aus der EU enden könnte. Für die EU wäre ein Austritt Großbritanniens ein herber Rückschlag, für die Briten aber ein veritables Desaster.

Gewiss, Großbritannien würde auch ohne Mitgliedschaft in der EU überleben können. Es fragt sich allerdings, wie dies aussähe. Denn Großbritannien würde durch den Austritt seine wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen in Europa auf das schwerste schädigen. Es gäbe keinen gemeinsamen Markt mehr mit Europa, der Finanzplatz London wäre geschwächt, und auch die "special relationship", die besondere Beziehung zu den USA, würde leiden.

Cameron hat bereits einmal eine Kostprobe seiner europapolitischen Künste zum Besten gegeben - mit dem Austritt der britischen Konservativen aus der Europäischen Volkspartei. Der großartige Erfolg dieses Schrittes zeigte sich bald: Cameron hat die Euro-Skeptiker innerhalb seiner Partei nicht besänftigt, die Tory Partei in der EU ihres Einflusses beraubt und in die rechte Ecke der euroskeptischen Sektierer und Obskuranten geführt - und so die britische Position innerhalb der EU erfolgreich geschwächt. Man müsste daher in London eigentlich aus Erfahrung wissen, was einem drohen wird, aber in dieser Frage scheint es nicht mehr allzu sehr um ein rationales Kalkül zu gehen.

Es wird keine grundlegenden Neuverhandlungen geben

Der Glaube, die EU könnte neu verhandeln und Deutschland könnte dies unterstützen, grenzt an Wunderglauben. Denn wenn mit Großbritannien nach dessen Wünschen der Europavertrag neu verhandelt und beschlossen werden sollte, so würde das für viele andere Mitgliedstaaten sofort ebenfalls gelten müssen. Und damit wäre es um die EU geschehen.

Bei aller Liebe für das Vereinigte Königreich, aber die Rückabwicklung der EU als Preis für dessen fortdauernde Mitgliedschaft wäre absurd hoch. Deswegen wird es keine grundlegenden Neuverhandlungen geben dürfen und geben können. Und einige wenige kosmetische Korrekturen am Vertrag werden Cameron nicht helfen - er müsste dies alles eigentlich wissen.

Tories wollen lieber die EU blockieren statt zu argumentieren

Die britischen Konservativen und David Cameron sind drauf und dran, sich endgültig zu verrennen. Dabei gäbe es ja tatsächlich einen ernst zu nehmenden Punkt zu diskutieren, was allerdings untergehen wird, wenn die Tories lieber die EU blockieren statt zu argumentieren. Dieser Punkt ist die Neugestaltung der Beziehung zwischen einer zunehmend politisch und wirtschaftlich integrierten Euro-Zone und den anderen EU Mitgliedern.

London weiß, dass die Euro-Gruppe eine sehr viel engere politische Integration braucht, um nicht zu scheitern. Und dass der Finanzplatz London durch ein Scheitern des Euro aufs schwerste beschädigt würde. Zugleich wissen Brüssel, London und Paris, dass die Finanzindustrie für das Vereinigte Königreich so wichtig ist wie die Nuklearindustrie für Frankreich und die Autoindustrie für Deutschland.

Und auch wenn auf absehbare Zeit niemand wird erwarten können, dass Großbritannien dem Euro beitreten wird, so spricht die politische Klugheit dafür, diese zentralen Interessen innerhalb der EU zu berücksichtigen und sich nicht in gegenseitigen Drohungen zu ergehen. Allerdings setzt dies Verständnis für die unterschiedlichen Interessen und den Willen zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit voraus, wie es innerhalb der EU-Familie eigentlich selbstverständlich sein sollte.

"Vereinigten Staaten von Europa"

Reden können nützlich sein oder auch belanglos. Sie können aber auch gefährlich sein, zumal wenn der Premierminister einer großen Nation sie hält. David Cameron tut sich schwer mit seiner immer wieder verschobenen Rede zu Europa, die er nun an diesem Mittwoch halten will. Es sieht ganz danach aus, als wenn sich der Gegenstand gegen die Worte sträuben würde. Der britische Premierminister sollte darin ein Zeichen sehen - und die Chance, noch einmal gründlich nachzudenken.

Am besten bei der erneuten Lektüre der Züricher Rede des größten britischen Staatsmannes im 20. Jahrhundert, Winston Churchill, vom 19. September 1946. Der sprach damals über die "Vereinigten Staaten von Europa".

Joschka Fischer, 64, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler - und beinahe 20 Jahre lang führender Politiker der Grünen.

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