Rechtsstaatlichkeit:Polens Parallelwelt

Die Verstöße der Regierung in Warschau gegen Demokratie und Gewaltenteilung müssen von den Mitgliedern der Europäischen Union endlich benannt werden. Eine Ermahnung ist nicht Sache der Kommission, sondern Aufgabe der Staaten. Polen schwächt die EU.

Von Daniel Brössler

Ein überlebenswichtiges Merkmal des komplizierten Gebildes Europäische Union ist die Arbeitsteilung. Wer wofür zuständig ist, regeln normalerweise die Verträge. Nicht vertraglich festgehalten ist das War-was-Prinzip. Es ist dennoch beliebt, wie sich gerade wieder zeigt.

In Polen wird die Gewaltenteilung aufgehoben, der Rechtsstaat ausgehöhlt und die Demokratie demoliert. Die Reaktion der anderen Mitgliedstaaten darauf lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: War was? Die Regierungen haben die leidige Angelegenheit der EU-Kommission überlassen und verstehen die Arbeitsteilung so, dass sie damit nicht weiter behelligt werden möchten. Das ist für den Augenblick praktisch, denn die Regierungen müssen und wollen ja mit den polnischen Kollegen irgendwie auskommen. Auf längere Sicht aber ist die Praxis fatal.

Als Hüterin der Verträge hat die EU-Kommission zu Beginn des Jahres sehr zu Recht den Angriff der polnischen Pis-Regierung auf den Rechtsstaat als Angelegenheit der Gemeinschaft betrachtet. Sie hat seitdem Fragen gestellt, Empfehlungen abgegeben und ihre Sorge geäußert. Zum Ende dieses Jahres ist klar, wie wenig Eindruck das auf Machthaber Jarosław Kaczyński und die ihm ergebene Regierung gemacht hat. Die Unterordnung des Verfassungsgerichts unter die Interessen der Regierungspartei ist praktisch abgeschlossen. Die Beschneidung der Demokratie schreitet voran, wenn auch womöglich gebremst durch die jüngsten Proteste. Die EU-Kommission ist damit am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Sie müsste den Fall nun vor den Rat bringen. Dann aber wären die Mitgliedstaaten dort, wo sie auf keinen Fall sein wollen: am Zug.

Die EU-Mitglieder müssen Warschau endlich ermahnen

Im EU-Vertrag ist geregelt, dass der Rat eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte der Gemeinschaft feststellen kann, was in einem weiteren Schritt zu einem Entzug von Mitgliedsrechten führen könnte. Diese Feststellung kann der Rat nur einstimmig treffen, wobei der betroffene Staat nicht mitstimmt. Im Falle Polens ist klar, dass der rechtsgerichtete ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán jede Maßnahme gegen Kaczyński verhindern würde. Mit dem Polen sieht er sich in einer illiberalen Allianz verbündet. Den europäischen Regierungschefs käme es daher gelegen, würde die EU-Kommission die ganze Angelegenheit wegen Aussichtslosigkeit zu den Akten legen. Doch genau das sollte sie nicht tun.

An diesem Mittwoch will die EU-Kommission über Polen sprechen. Sollte sie das Vorgehen gegen die Regierung nach weiteren wohlfeilen Ermahnungen im Sande verlaufen lassen, macht sie sich das Versagen zu eigen. Wenn es derzeit in der EU nicht möglich ist, schwere Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips beim Namen zu nennen und zu ahnden, so liegt das in Wahrheit am Unwillen der Mitgliedstaaten und an den viel zu hohen Hürden, die im Vertrag von Lissabon errichtet worden sind. Diese beiden Probleme sollten benannt und nicht mit der Floskel vom allgemein beklagten EU-Versagen abgetan werden. So wird das Thema zwar nicht gelöst, aber das Problembewusstsein steigt.

In Kaczyńskis Parallelwelt entspricht Kritik aus Brüssel der Einmischung in innere Angelegenheiten. Für ihn ist die Europäische Union, wie er selber gesagt hat, ein großer Stall zum Pferdestehlen. Die reale EU aber ist nicht einfach nur ein großer Fördertopf, sondern eine Gemeinschaft von Demokratien und Rechtsstaaten. Wenn ein Mitglied die Grundvoraussetzungen nicht mehr erfüllt, geht es die anderen etwas an. Kaczyński und seine Leute treten ihren Kritikern aus der EU bislang mit der gleichen Arroganz entgegen, mit der sie die Opposition im eigenen Land strafen. Je leichter sie damit durchkommen, desto größer wird der Schaden für die Union.

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