Rechtsphilosophie:Die Wurzel aller Grundrechte

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Dietmar von der Pfordten erzählt von der Menschenwürde. Das Bändchen ist eine Fundgrube.

Von Rolf Lamprecht

Das Fernsehen zeigt Tag für Tag Bilder, die offenbaren, was in den Krisen dieser Welt verloren gegangen ist: die Achtung vor der Menschenwürde. Flüchtlinge in Idomeni und auf Lesbos können von dem hehren Begriff nur träumen. Eine bittere Erkenntnis - und Anlass, über einen Wert nachzudenken, der selbstverständlich erscheint, es aber offenbar nicht ist.

Passend dazu erklärt der Göttinger Rechts- und Sozialphilosoph Dietmar von der Pfordten nun auf 128 Seiten, was Menschenwürde bedeutet - historisch, ethisch, politisch und juristisch. Das schmale Bändchen ist eine wahre Fundgrube. Der Autor erzählt die Geschichte des Begriffs, der bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts nur akademische Bedeutung hatte. "Würde" kommt in der griechischen Antike noch nicht vor, erst in der römischen.

Ins allgemeine Bewusstsein ist die Menschenwürde erst durch zwei Dokumente gedrungen: die "Charta der Vereinten Nationen" von 1945 und die "Allgemeine Menschenrechtserklärung der UN" von 1948. In Deutschland wurde sie 1949 im Grundgesetz verankert - und gehört, wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, "zu den Konstitutionsprinzipien" des Staates: "Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar."

Der Autor beschreibt die Interpretationen des Begriffs, etwa die Selbstachtung, den Schutz vor Demütigungen oder, ökonomisch gesehen, das "menschenwürdige Dasein". Er apostrophiert konkrete Anwendungen: lebenslängliche Haft, Geiselnahme und -befreiung, Lügendetektor, Folterverbot, Präimplantationsdiagnostik.

Laut Artikel 1 Grundgesetz ist "die Würde des Menschen unantastbar". Das Schlüsselwort "unantastbar", das auch in der "EU-Grundrechtecharta" von 2000 vorkommt, könnte, meint der Autor, "beschreibend" oder "vorschreibend" verstanden werden. Beschreibend, "dass dem Menschen die Würde nicht genommen werden kann", vorschreibend mit der klaren Aussage, dass die Menschenwürde "absolut" gilt. Von der Pfordten verweist hier auf die eindeutigen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts: "Die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig."

In die Lektüre des beeindruckenden Kompendiums fließt gleichwohl ein Wermutstropfen. Das Elend der Gegenwart - der Flüchtlingsstrom und die Selbstmordattentate - erinnern daran, wie zerbrechlich das hohe Gut der Menschenwürde ist. Die Welt scheint von dem Spruch "wie gewonnen, so zerronnen" nicht mehr weit entfernt zu sein.

Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Korrespondent bei den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.

© SZ vom 09.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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