Europäisch-türkische Beziehungen:Sorge vor dem Putsch von oben

Die Türkei dürfte für Deutschland und die EU ein noch schwierigerer Partner werden. Möglicherweise platzt nun der Flüchtlingsdeal.

Von Robert Roßmann und Thomas Kirchner

Es war eine Reise, die Angela Merkel nicht so schnell vergessen dürfte. Drei Tage war die Kanzlerin unterwegs. Erst in Kirgisistan, dann - sogar sieben Zeitzonen entfernt - in der Mongolei. Und in jeder Nacht wurde sie von Nachrichten überrollt. In Kirgisistan trudelte gegen ein Uhr Ortszeit die Meldung ein, dass ausgerechnet Brexit-Frontmann Boris Johnson neuer britischer Außenminister werden soll. In der zweiten Nacht riss der Attentäter von Nizza mehr als 80 Menschen in den Tod. Und in der dritten Nacht begann der Putschversuch türkischer Soldaten. Um kurz vor eins hatte Merkel noch mit Frankreichs Präsidenten François Hollande wegen des Anschlags von Nizza telefoniert, gut vier Stunden später beendeten die ersten Eilmeldungen aus der Türkei die mongolische Nachtruhe schon wieder. Merkel ist jetzt das elfte Jahr Kanzlerin - aber eine derart turbulente Auslandsreise dürfte selbst sie noch nie erlebt haben.

Einen Vorteil hatte der Ausflug zum Asien-Europa-Gipfel aber doch. An dem Treffen in Ulan Bator nahmen auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Vertreter der anderen 27 EU-Staaten teil. Sie konnten an diesem mongolischen Morgen gleich persönlich miteinander beraten, wie Europa auf den Putschversuch reagieren soll. Dessen Ausgang war zu diesem Zeitpunkt noch offen, man konnte deshalb nicht nur Juncker und Tusk dabei beobachten, wie sie vor der großen Versammlungsjurte in ihren Smartphones die neuesten Nachrichten aus der Türkei verfolgten. Merkel nutzte die Zeit, um sich mit Vizekanzler Sigmar Gabriel, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Kanzleramtschef Peter Altmaier abzusprechen.

Asien-Europa-Gipfel (Asem)

Die Lage in der Türkei war auch Thema beim Asien-Europa-Gipfel in Ulan Bator: Kanzlerin Angela Merkel mit Chinas Ministerpräsident Li Keqiang (re.).

(Foto: dpa)

Die Europäer waren sich dann schnell einig. Um kurz vor halb zehn Ortszeit - in Deutschland war es erst 2.23 Uhr - twitterte Tusk: "Die Europäische Union unterstützt die demokratisch gewählte türkische Regierung." Die EU verlange eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung. Merkel selbst äußerte sich zwar erst nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, aber ihr Regierungssprecher hatte sogar schon vor Tusk erklärt: "Die demokratische Ordnung in der Türkei muss respektiert werden. Alles muss getan werden, um Menschenleben zu schützen."

Den Europäern war klar, dass sie mit einer Stellungnahme nicht warten können, bis klar ist, wer in der Türkei gewinnen wird. Und ihnen war bewusst, dass ihre Erklärung als Parteinahme für den autoritär regierenden Recep Tayyip Erdoğan missverstanden werden kann. Aber die Europäer waren sich einig, dass trotz aller Vorbehalte gegen Erdoğan ein demokratisch gewählter Präsident nicht durch Putschisten aus dem Amt gejagt werden darf, selbst wenn die Soldaten tatsächlich wegen demokratischer Defizite gegen Erdoğan aufbegehren sollten.

Für die EU geht es in diesem Fall um sehr viel. Es geht - pathetisch gesprochen - um ihre Werte. Es geht aber auch ganz konkret um die beiden wichtigsten aktuellen Herausforderungen: die Bewältigung der Flüchtlingskrise und den Kampf gegen den "Islamischen Staat", den man gemeinsam mit der Türkei führt. Außerdem sind gerade Hunderttausende Touristen aus Europa in der Türkei. Deutschland ist besonders betroffen. Der Flüchtlingspakt der EU mit Erdoğan geht auf Merkels Initiative zurück, in Inçirlik sind auch Bundeswehrsoldaten stationiert, und in Deutschland leben fast drei Millionen türkischstämmige Bürger.

So klar, wie für Merkel und die EU ist, dass der Militärputsch verurteilt werden muss, so groß ist jetzt die Sorge, dass Erdoğan die Gelegenheit für einen Putsch von oben nutzt. Alle Ereignisse des Wochenendes deuten daraufhin, dass der türkische Präsident dabei keine Rücksichten mehr nehmen wird.

Wie groß die Sorgen sind, machte auch Merkels Erklärung nach ihrer Rückkehr aus der Mongolei klar. "Im Namen der ganzen Bundesregierung verurteile ich den Versuch türkischer Militäreinheiten, die gewählte Regierung und den gewählten Präsidenten ihres Landes gewaltsam zu stürzen, auf das Schärfste", sagte die Kanzlerin. Sie vermied es aber, Erdoğan zu unterstützen. Stattdessen sagte sie, Deutschland stehe "an der Seite all derjenigen in der Türkei, die die Demokratie und den Rechtsstaat verteidigen". Gerade im Umgang "mit den Verantwortlichen für die tragischen Ereignisse" könne und sollte "sich der Rechtsstaat beweisen". Das durfte man durchaus als Aufforderung an Erdoğan lesen.

Im Kanzleramt gehen sie aber trotz aller Appelle davon aus, dass der türkische Präsident den gescheiterten Putsch für eine Säuberungswelle großen Ausmaßes nutzen und seinen Kurs der Islamisierung jetzt noch deutlicher fortsetzen wird. Der Putsch werde ihn jedenfalls keinesfalls toleranter machen, heißt es.

Auch für die EU ist das eine gefährliche Entwicklung. Bei aller Kritik, die an Ankara geäußert wurde - so sollen türkische Soldaten Flüchtlinge an der Grenze zu Syrien beschossen haben -, hat sich die türkische Seite bisher an ihre Zusagen beim Flüchtlingsabkommen gehalten. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Deal platzt, jetzt hoch. Die Visa-Freiheit für türkische Bürger, die sich Erdoğan wünscht, dürfte es nicht mehr geben. Die EU pocht auf eine Änderung jener Gesetze, die es den türkischen Behörden ermöglichen, die Definition von "Terror" fast beliebig weit zu fassen. Ein Erdoğan aber, der jetzt Tausende Gegner verhaften lässt, wird nicht die geringste Lust verspüren, der EU ausgerechnet in diesem Punkt entgegenzukommen. Und sollte der Präsident tatsächlich die Todesstrafe wiedereinführen, wie er nun erwägt, würde dies sogar jegliche Perspektive eines Beitritts zur EU zunichte machen.

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