Reaktionen auf NSU-Urteile:"Solange diese Lücken bleiben, können meine Familie und ich nicht abschließen"

  • Angehörige der Opfer, Politiker und Menschenrechtler haben die Urteile im NSU-Prozess mit Befriedigung aufgenommen. Es gibt aber auch heftige Kritik.
  • Nach den Urteilen müsse der Kampf gegen den Rechtsextremismus weitergehen, heißt es.
  • Offen ist vielen Kritikern zufolge noch die Frage nach weiteren NSU-Helfern und der Rolle des Verfassungsschutzes.

Die Urteile im NSU-Prozess sind sowohl unter Angehörigen der Opfer als auch in Politik und Gesellschaft mit Erleichterung und Befriedigung aufgenommen worden. Doch es gibt auch Kritik. So erscheinen manchen die Urteile zu milde. Ismael Yozgat, Vater des Kasseler NSU-Opfers Halit Yozgat, war sogar während der Urteilsbegründung aufgestanden und hatte seine Trauer und Wut in den Saal geschrien.

Darüber hinaus werfen viele Beobachter des Prozesses der Justiz eine mangelhafte Aufklärung aller Umstände der Verbrechen der Terroristen und der Rolle von Polizei und Verfassungsschutz vor.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach den Angehörigen der Opfer seinen Respekt aus. Nach dem Verlust geliebter Menschen hätten sie Jahre der Ungewissheit und zum Teil falsche Verdächtigungen durch die Strafverfolgungsbehörden ertragen müssen, sagte Seehofer. Vor Gericht seien sie dann auch noch mit den Details der menschenverachtenden Taten konfrontiert worden.

Von einer "gerechten Strafe" für die "kaltblütige und beispiellose Verbrechensserie" des NSU sprach der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Er hoffe, dass damit auch den Angehörigen der Opfer die Bewältigung erleichtert werde, "auch wenn wir alle diese schrecklichen Taten niemals vergessen können". Herrmann mahnte für die Zukunft: "Dass der NSU über Jahre hinweg unbehelligt schwerste Straftaten verüben konnte, ist für uns Mahnung und Auftrag zugleich, dass sich solche Taten nie wieder wiederholen dürfen."

Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte, gegen rassistische Gewalt würde nicht nur die Stärke des Rechts eingesetzt werden. "Gegen Intoleranz und Hass braucht es die Kraft der Vielfalt unserer offenen Gesellschaften - überall auf der Welt", sagte Maas. "Das Leid, was die Täter angerichtet haben, ist durch nichts wiedergutzumachen. Die Opfer bleiben unvergessen."

Für die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), ist das Kapitel NSU mit dem Urteil allerdings noch "nicht abgehakt". Wie sie der Rheinischen Post sagte, stünden alle Verantwortlichen in der Pflicht, den Kampf gegen Rechtsextremismus entschlossen voranzutreiben und alles daranzusetzen, dass sich solche abscheulichen Morde nicht wiederholen könnten. "Wir brauchen eine Kultur des Widerspruchs, wenn Menschen diskriminiert und abgewertet werden. Wir brauchen eine Kultur von null Toleranz, wenn Menschen angegriffen werden."

Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opfer, Barbara John, erklärte, das Urteil entspreche dem, was die Familien erwartet und erhofft hätten.

"Das Unterstützungsnetzwerk ist weiter vorhanden"

Von dort waren allerdings auch kritische Stimmen zu hören. So forderte Gamze Kubaşik, die Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşik, die Aufarbeitung der Morde müsse fortgesetzt werden: "Ich hoffe nun, dass auch alle weiteren Helfer des NSU gefunden und verurteilt werden". Wenn das Gericht ehrlich sei, werde es einräumen, dass Lücken geblieben seien. "Solange diese Lücken bleiben, können meine Familie und ich nicht abschließen."

Der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler sagte dementsprechend zum türkischen Staatssender TRT, die Staatsanwaltschaft wolle die Akte zwar schließen. "Aber das werden wir bestimmt nicht zulassen."

Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) forderte weitere Strafverfahren gegen das NSU-Unterstützernetzwerk. Dem Zentralrat der Muslime in Deutschland zufolge habe der Prozess nicht ausreichend aufklären können, inwieweit weitere Verantwortliche in die Mordserie verwickelt waren. "Dieses Versäumnis ist eine große Belastung für die Familienangehörigen der Opfer und den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland."

Das sieht eine Reihe von Politikern ähnlich. Auch für den Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) bleiben zu viele Fragen ungeklärt. Und zwar nicht nur nach einem möglichen Unterstützernetzwerk des NSU , sondern auch nach der Mitverantwortung der Geheimdienste. Es werde die Aufgabe der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern bleiben, die politische und historische Aufklärung weiter voranzutreiben.

Das fordert auch die SPD in Bayern. Denn was immer noch offen sei, sei die Frage der Angehörigen nach dem Warum, sagte Generalsekretär Uli Grötsch. Er sei außerdem fest davon überzeugt, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zahlreiche Unterstützer hatten. Dieses Neonazi-Netzwerk agiere immer noch im Untergrund. Er schließe nicht aus, dass sich eine Mordserie wie die des NSU jederzeit wiederholen könnte, betonte Grötsch. Auch Ulrich Maly, SPD-Oberbürgermeister von Nürnberg, einer Stadt, in der der NSU drei seiner Opfer getötet hat, erklärte, erst wenn solche Fragen geklärt seien, werde sich Rechtsfrieden einstellen.

"Das Unterstützungsnetzwerk des NSU ist weiter vorhanden", erklärte auch der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter - und verlangte eine Untersuchung der Rolle des Verfassungsschutzes. Dieser habe die Aufklärung der NSU-Verbrechen behindert und nicht dazu beigetragen. Seine Parteikollegin Irene Mihalic kritisierte, dass die Anklage das hinter dem Trio stehende Terrorsystem konsequent ausgeblendet habe. Das habe das Bundesamt für Verfassungsschutz auch noch maßgeblich gefördert, "indem es wichtige Akten von V-Leuten im direkten Umfeld des Trios gezielt geschreddert hat". Mihalic forderte einen "kompletten Neustart des Verfassungsschutzes in Deutschland".

"Institutioneller Rassismus"?

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Petra Pau wies darauf hin, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die bedingungslose Aufklärung der Mordtaten versprochen habe. "Das Versprechen ist nicht eingelöst." Noch immer existierten rechtsextreme Netzwerke, sagte die Obfrau der Linken im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. "Während wir hier stehen, ist die Gefahr von weiteren rechtsextremen Taten weiter relevant."

Ähnlich fiel die Einschätzung des stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Stephan Thomae, aus. Deshalb müsse die Regierung ein Konzept "für eine umfassende Reform der deutschen Sicherheitsarchitektur" vorlegen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International begrüßte, dass mit dem Schuldspruch ein wichtiger Teil der juristischen Aufarbeitung abgeschlossen ist. Es bleibe aber weiter unklar, wie es zu dem erschreckenden Versagen der Behörden bei den Ermittlungen gekommen und inwieweit "institutioneller Rassismus" dafür verantwortlich sei.

Als "nicht zufriedenstellend" kritisiert die türkische Regierung das Urteil. In der Türkei war der Prozess mit großem Interesse verfolgt worden, da acht der Opfer des NSU aus der Türkei stammten. Das Außenministerium in Ankara erklärte, das Urteil habe "bedauerlicherweise" nicht den gesamten Hintergrund der NSU-Mordserie aufgeklärt. Mögliche Verbindungen der NSU-Täter zu einem "Staat im Staate" und zum Geheimdienst seien nicht aufgeklärt, die "wahren Schuldigen" seien nicht gefunden worden, kritisierte das Außenministerium.

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