Wissenschaftsgeschichte:Als der Rassismus die Sprache entdeckte

The Trail of Tears

Der "Trail of Tears" der Cherokees, die 1834 als "defekte Rasse" nach Westen geschickt wurden, auf einem Gemälde von Robert Lindneux.

(Foto: picture-alliance/newscom)

Anhänger der Rassenlehren wollten im 19. Jahrhundert die Überlegenheit von Völkern aus ihren Sprachen ableiten. Dabei verstrickten sie sich in hanebüchenen Argumenten.

Von Thomas Steinfeld

Es wird nicht mehr oft von "Rassen" gesprochen, schon gar nicht im Zusammenhang mit Menschen. Als ob eine hässliche Angelegenheit erträglicher würde, wenn sie einen hübscheren Namen trüge, ist heute stattdessen meist von "Ethnien" die Rede, in denen sich die fünf Rassen, in die der Aufklärer Johann Friedrich Blumenbach die Bevölkerung der Welt geteilt hatte, in unüberschaubarer Vielheit verlieren sollen. Und sollte das unangenehme Wort dennoch einmal fallen, lautet die stets notwendige Ergänzung, man wisse doch, dass "Rasse" ein "soziales Konstrukt" sei.

Doch führt dieser Hinweis nirgendwo hin: Denn streng genommen ist jedes Wort ein "soziales Konstrukt": der "Tisch" etwa oder die "Maus" verwandelt Einzelnes in etwas Allgemeines, das ohne "Konstruktion" und Gesellschaft nicht zu haben ist. Wenn die Formel vom "sozialen Konstrukt" einen Sinn haben soll, käme alles darauf an zu wissen, um welche Art Konstrukt es sich handelt und wozu es benutzt wird. An diesem Punkt aber beginnen alle Schwierigkeiten, derer man sich durch jene Formel entledigt zu haben glaubte.

Schlegel hoffte auf die "Weisheit der Indier"

Unangenehm ist das Wort "Rasse" aus einem dreifachen Grund: Erstes geht seine Verwendung historisch einher mit der Unterwerfung, sogar Vernichtung ganzer Völkerschaften, und zweitens ist sie an die Entstehung und Entfaltung moderner Nationen gebunden.

Schwieriger wird es beim dritten Grund: Denn es kann ja keinen Zweifel daran geben, dass die Menschheit eine bunte Veranstaltung ist - dass es also deutliche biologische Unterschiede zwischen Menschen gibt, von denen die Hautfarbe nur die auffälligste ist.

Nun kann man zwar mit derselben Sicherheit, mit der jemand vom "sozialen Konstrukt" spricht, die Gewissheit in die Welt setzen, aller Rassismus beginne dort, wo biologische Unterschiede in gesellschaftliche Differenzen verwandelt werden - doch ist damit noch keineswegs geklärt, wo die einen enden und die anderen beginnen. Und die Aussichten, dass sich diese Grenze je bestimmen lasse, sind zumindest gering. Umso wichtiger wird daher die Frage, wie ein solches "Konstrukt" aufgebaut ist und wer welches Interesse an einer solchen Scheidung habe. Diese Frage muss notwendig politisch werden.

In so verworrener Lage von einem fachgeschichtlichen Werk eine Klärung zu erwarten, scheint auf den ersten Blick vermessen zu sein, zumal es sich bei dem Buch "Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion" um eine Anthologie von Schriften aus dem 19. Jahrhundert handelt, die jeweils von einem Kommentar eines heutigen Philologen begleitet werden.

Dreizehn Sprachhistoriker werden behandelt, angefangen mit Friedrich Schlegel, der in seinem Traktat "Über die Sprache und Weisheit der Indier" (1808) hofft, man könne die Renaissance erneuern, indem man in Indien - gegen Frankreich und die verratene Revolution - das älteste und beste Europa wiederfinde.

Zur Begründung teilt er die Sprachen in flektierende und agglutinierende ("anfügende"), wobei die ersteren Ausdruck von "hoher Geistigkeit" seien, letztere aber "tierische Dumpfheit" beförderten - und während die flektierenden europäischen Sprachen auf Sanskrit zurückgingen, sei die "Dumpfheit" vor allem in Amerika zu finden.

"Schlegel zerreißt das Band der Menschheit" sagt dazu sein Kommentator, der Berliner Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant. "Hatte Europa bisher schon geglaubt, dass es sich durch die Entfaltung einer höheren Zivilisation von den anderen Völkern der Welt unterscheide, so wird diese Anmaßung Europas nun ins Biologische gewendet, naturalisiert und damit radikalisiert."

Der Leser wundert sich allerdings ein wenig darüber, dass niemandem - weder im 19. Jahrhundert noch in der Gegenwart - aufzufallen scheint, dass das Englische zwar die Sprache des größten aller Kolonialreiche ist, aber wenig flektiert.

Wie Nietzsche die "erlogene Rassen-Selbstbewunderung" geißelte

Lewis Cass, der Mann, der die Cherokee auf dem "Trail of Tears" (1834) nach Westen schickte, bei dem Tausende starben, war ein Offizier und Politiker und keineswegs zufällig zwecks Bekämpfung der Ureinwohner zum dilettierenden Philologen geworden: die (falsche) Behauptung, dass sie angeblich keine Relativpronomina besäßen, galt ihm nicht nur als Grund, sie zu einer "defekten" Rasse zu erklären, sondern gehörte in ein weit gespanntes Raster sprachhistorischer Scheidungen zwischen minderen und überlegenen Rassen.

Der französische Diplomat und Schriftsteller Arthur de Gobineau wollte, wie Markus Messling zeigt, Frankreich retten, indem er eine stark idealisierte Aristokratie mit einer Hierarchie der Sprachen verband.

Und Max Müller, Professor für Vergleichende Religionswissenschaften in Oxford, suchte, so formuliert es sein Kommentator Christopher Hutton, nach der "gemeinsamen Abstammung des englischen Soldaten und des dunklen Bengali" in der Figur des "Ariers", die er ausschließlich in der Sprache konstituiert sieht.

Was die Philologie im 19. Jahrhundert an anthropologischen und historischen Erkenntnisse hervorgebracht habe, schreiben die Herausgeber zu Beginn des Buches, seien keine "weichen", sondern zumindest scheinbar "harte" Wissensbestände gewesen, die sich leicht dem "Überlegenheitsdenken" der europäischen Nationen hätten einfügen lassen.

Das stimmt vermutlich, und in Rekonstruktion solcher ideologischen Verbindungen liegt der größte Nutzen dieser Anthologie. Doch zugleich muss es auch anders gewesen sein: Denn auch den Sprachwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts entgeht nicht, dass Sprache und Rasse nicht nur nicht dasselbe (und sich schon gar nicht wie Variable und Konstante zueinander verhalten), sondern grundsätzlich verschiedene Dinge sind.

Wilhelm Schlegels Auseinander der Sprachen wird von Wilhelm von Humboldt revidiert, zugunsten von Individualitäten, zwischen denen nicht zu werten sei. Lewis Cass muss seine Vorstellung der indianischen Sprache gegen die sich entwickelnde amerikanische Sprachwissenschaft behaupten.

Das Wort "Rasse" ist falsch von "radix", der Wurzel, abgeleitet

Und wenn Marcel Lepper, der Marbacher Fachhistoriker der Germanistik, berichtet, wie sich in Friedrich Nietzsches philologischen Konzepten "Herkunftsdenken" (das Machtansprüche relativiert) von "Ursprungsdenken" (das Machtansprüche begründet) scheidet, dann lässt er den Schluss nicht aus: "Wir Heimatlosen", heißt es in Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" aus dem Jahr 1887, "wir sind in der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt (...) und folglich wenig versucht, an jener verlogenen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt."

So spricht einer, merkwürdigerweise, der bei anderer Gelegenheit Übermenschen gezüchtet sehen will. Man wünschte sich, dass der Kommentar an dieser Stelle, also im Anschluss an Marcel Leppers Überlegungen, ausgedehnt und auf andere Disziplinen ausgeweitet würde - und überhaupt scheint es zu diesem Thema einer Monografie zu bedürfen, die eine durch das Genre des Kommentars notwendige Nähe zu den Originaltexten aufgibt und selbständig über diesen so problematischen Gegenstand spricht.

Denn so offensichtlich es ist, dass Rassenlehre und vergleichende Sprachgeschichte ineinandergreifen, zumal wenn es um "Stämme" und "Wurzeln" oder gar "reine Wurzeln" geht (das Wort "Rasse" wurde in einer falschen Etymologie oft von "radix", also der "Wurzel", abgeleitet), so evident ist auch, dass der Rassismus in der Wahl seiner Mittel nicht wählerisch ist.

Es ist ihm letztlich gleichgültig, aus welchem Indiz er die Gewissheit gewinnt, dass dieser oder jener Fremde (oder alle Fremden) nicht zu seiner Volksgemeinschaft gehört - die Phrenologie oder die Ethnologie oder auch der bloße Augenschein erfüllen diesen Zweck ebenfalls, und sollte es dabei einmal einen Falschen treffen, so liegt darin keine Widerlegung des Prinzips, sondern am Ende auch nur wieder eine Bestätigung der Trennung zwischen einem "Wir" und den anderen, die nicht "Wir" sind und also keine Ansprüche zu stellen haben.

Philipp Krämer, Markus A. Lenz, Markus Messling (Hrsg.): Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion. Kommentierte Grundlagentexte des langen 19. Jahrhunderts. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015. 502 Seiten, 59 Euro.

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