Rassismus in der NS-Zeit:Gewalt als Politik

Wie sich der NS-Rassismus in den deutschen Dörfern ausbreitete und wie der Begriff "Volksgemeinschaft" entstand.

Anke Schwarzer

Frieda Pinto, die Schwester des jüdischen Metzgers Levy Pinto, lebte in Jengum, einem 1200 Einwohner zählenden Dorf in Ostfriesland. Als 1935 bekannt wurde, dass sie mit ihrem Verlobten Adolf Cohen aus Wittmund zusammenziehen wollte, bildete sich nach dessen Ankunft ein Demonstrationszug.

Rassismus in der NS-Zeit: Beispielhaft für die Recherche: Die Räume des Internationalen Suchdienstes im nordhessischen Bad Arolsen mit Hinweisen auf 17 Millionen Opfer des NS-Regimes

Beispielhaft für die Recherche: Die Räume des Internationalen Suchdienstes im nordhessischen Bad Arolsen mit Hinweisen auf 17 Millionen Opfer des NS-Regimes

(Foto: Foto: dpa (Archivbild))

Am Haus der Pintos wurden Fensterscheiben eingeschlagen, und die Menge skandierte antisemitische Parolen. Sie forderte, dass Cohen sich nicht im Ort niederlassen dürfe - mit Erfolg. Nachdem der Bürgermeister und der Dorfpolizist mit dem Metzger gesprochen hatten, sagte Cohen, er werde den Ort innerhalb einer halben Stunde verlassen. Eine größere Menschenmenge folgte ihm bis zur Fähre.

Gerade in der Provinz war laut Michael Wildt die Verfolgung der jüdischen Nachbarn als "Volksfeinde" das zentrale Instrument, um die bürgerliche Ordnung anzugreifen und eine rassistische "Volksgemeinschaft" zu etablieren. In den kleinen Orten, wo die Nationalsozialisten zwar die Führungspositionen erobert, aber nicht immer auch die politische Macht errungen hatten, lasse sich die Herstellung der "Volksgemeinschaft" deutlicher zeigen als in den Großstädten.

Denn in der urbanen Anonymität sei es jüdischen Opfern eher gelungen, ein Versteck zu finden. Zudem hätten internationale und ökonomische Rücksichtnahmen die Akteure in den Großstädten zur Zurückhaltung gezwungen. Auf dem Lande dagegen seien die Verhältnisse überschaubar wie ausweglos, alle Akteure sichtbar und kenntlich gewesen.

Ob diese Gegenüberstellung von Stadt und Land - angesichts äußerst gewalttätiger Aktionen in Berlin und anderen größeren Städten - nicht doch zu holzschnittartig ist, sei dahingestellt. Auch ist zu fragen, warum Wildt diese Trennung überhaupt vornehmen muss, um den gewaltsamen Ausschluss von Juden im Deutschen Reich zu beschreiben. Nichtsdestotrotz ist sein Fokus auf die kleinen Orte aufschlussreich, nicht zuletzt auch wegen seiner Quellen.

Ja, es gab "volksgemeinschaftliche" Gleichheitsversprechen, Gemeinschaftserlebnisse - lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Gewalt als Politik

Wildts Ausführungen stützen sich auf die Berichte der Ortsgruppen des 1893 gegründeten Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), der mit über 600 Ortsgruppen und fast 7000 Mitgliedern neben den jüdischen Gemeinden der größte deutsch-jüdische Verband war. Dieses Schriftgut lag im Moskauer "Sonderarchiv" über fünfzig Jahre unter Verschluss.

Eine zweite Quelle, die die Stimmen des NS-Regimes zur Sprache bringt, sind die Stimmungs- und Lageberichte staatlicher Stellen wie Bürgermeistern, Landräten sowie der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS (SD). 3744 Dokumente hat Wildt erstmals systematisch auf Gewaltaktionen ausgewertet. Dass der Begriff der rassistischen Volksgemeinschaft mehr als ein propagandistisches Schlagwort war, zeigt Wildt in seiner Studie.

Gewalt gegen Juden in der Provinz

Der Historiker beleuchtet, wie der Begriff "Volksgemeinschaft" entstand und wie er von den linken wie rechten Parteien mit unterschiedlichen inhaltlichen Facetten ausgestattet wurde. Er geht der antisemitischen Gewalt zwischen 1919 und 1939 nach - den Boykotten, Misshandlungen, Vertreibungen, "Rassenschande-Umzügen" und Pogromen - und präsentiert einzelne Fälle aus fünf Regionen des Deutschen Reichs.

Eine Zäsur sieht er, neben den Jahren 1933 und 1939, nach dem Wahlerfolg der NSDAP 1930, als die Zahl der Gewalttaten in den Folgejahren sprunghaft in die Höhe schnellte.

Um was es Wildt geht, und das zeigt er anschaulich anhand der Gewalt gegen Juden in der Provinz, ist, wie die "Volksgemeinschaft", die er nicht einfach als gegeben voraussetzt, durch Ausschluss hergestellt wurde.

Dabei richtet er den Blick weniger auf die staatlichen Verordnungen, jüdische Deutsche zu Staatsbürgern minderen Rechts zu erklären, sondern auf die gewalttätige Praxis des gesellschaftlichen Antisemitismus, das Verhalten der Kollegen, der Nachbarn, Kunden und Bekannten.

Ohne Publikum, in leeren Straßen und vor verschlossenen Fenstern wäre so manche SA-Aktion verpufft, betont Wildt. Es gehe allerdings weniger darum, immer neue Tätergruppen zu identifizieren, sondern die verschiedenartige Beteiligung und Komplizenschaft der Schaulustigen und Passanten genauer in den Blick zu nehmen.

Ja, es gab "volksgemeinschaftliche" Gleichheitsversprechen, Anerkennung, Gemeinschaftserlebnisse, wirtschaftlichen Zugewinn und Aufschwung für eine ausgewählte Schar Deutscher: Doch der Historiker zeigt deutlich, dass antisemitisches Handeln den Kern des Volksgemeinschaftprojekts bildete. Es war Ziel und Mittel zugleich. Gewalt war dabei kein Mittel der Politik, sie war Politik.

MICHAEL WILDT: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939. Verlag Hamburger Edition. 423 Seiten, 28 Euro.

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