Raketenalarm in Tel Aviv:Angriff auf das Herz

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Erst heulende Sirenen, dann banges Warten, dann der Knall: Tel Aviv, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Israels, ist von all den Kriegen zuvor verschont geblieben. Jetzt haben die palästinensischen Extremisten bewiesen, dass sie mit ihrem Raketenterror auch das Herz des Landes treffen können.

Peter Münch, Tel Aviv

Am Morgen danach sind die Straßencafés wieder gut gefüllt. Freitag ist Freizeittag in Tel Aviv, das Wochenende beginnt mit Frühsport auf der Strandpromenade oder den letzten Einkäufen für das Sabbatessen am Abend. Doch hinter der Fassade der Alltäglichkeit ist eine Unruhe zu spüren in der sonst so cool-beschwingten Mittelmeer-Metropole. "Das war schon ein Schock", sagt Adi Elkayan in seinem Café im Viertel Neve Tsedek und wischt den Tresen trocken.

Der erste Schock kam am Donnerstagabend um Punkt 18.45 Uhr Ortszeit. Da ist Rushhour in der Stadt, die Straßen sind voll, und wer schon zu Hause ist von der Arbeit, der plant die große Ausgeh-Runde. Doch plötzlich heulten die Sirenen auf, und auch wenn den ganzen Tag über schon die Nachrichtensendungen überquollen von Berichten über einen Beschuss aus dem Gaza-Streifen, so dauerte es doch eine Schrecksekunde, um zu realisieren, was das sollte. Ein Raketenangriff? Auf Tel Aviv? Unglaublich!

Und tatsächlich, es war kein Probealarm, das war der Ernstfall, und als der schrille Signalton langsam verebbte, war ein dumpfer Knall zu hören, und die Sensiblen meinten, eine Erschütterung zu spüren. Am Freitag zur Mittagszeit wiederholte sich das alles nach demselben Muster: der Sirenenalarm, der bedrohlich anschwillt wie ein Sturmgeheul, das bange Warten - und dann der Knall. Auf der städtischen Schnellstraße, dem Ayalon, fuhren die Leute an den Rand und suchten Deckung hinter ihren Autos. In den Restaurants krabbelten Gäste unter die Tische, und draußen waren Menschen zu sehen, die sich flach auf den Boden warfen, so wie sie es gelernt hatten in den Zivilschutzübungen oder in ihrer Zeit beim Militär. Die Raketen, die erstmals vom Gaza-Streifen aus auf Tel Aviv abgeschossen worden waren, schlugen letztendlich vor der Küste im Meer ein. Sie haben keine Schäden hinterlassen - aber Spuren.

Tel Aviv galt bisher als von den Angriffen verschonte "bubble". Doch jetzt haben auch dort die Alarmsirenen die Bewohner in die Luftschutzbunker getrieben. (Foto: AFP)

Tel Aviv, das ist doch der Party-Planet, "the bubble", wie sie gerne sagen, doch diese Blase könnte platzen. In all den Kriegen zuvor war das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Israels, in dessen Großraum mehr als drei Millionen Menschen leben, verschont geblieben von Angriffen aus der Luft. Gekämpft wurde immer woanders. Nur einmal, im Golfkrieg 1991, hatte der irakische Diktator Saddam Hussein die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt mit seinen Scud-Raketen. Mehr als 20 Jahre lang aber war kein Luftalarm mehr zu hören gewesen, eben bis zu diesem Donnerstagabend. Da hatten die palästinensischen Extremisten den Beweis geliefert, dass sie ihren Raketenterror nicht mehr nur in begrenztem Umfang rund um den Gaza-Streifen ausüben, sondern auch das Herz des Landes treffen können.

Sind das nur Warnschüsse?

Nach einem Ausgeh-Abend war schon am Donnerstag nur noch den wenigsten zumute. "Hier sind fast alle Tische leer geblieben", sagt Adi Elkayan, "nur ein paar Touristen sind noch gekommen." Zu Hause saßen die Menschen vor den Fernsehern und schauten die Nachrichtensendungen, immer wieder hörten sie die Wiederholung des Alarms, immer wieder sahen sie die Bilder von Raketen, die durch den Himmel zischen. Und diskutiert wird nur die eine Frage: Sind das nur Warnschüsse? Oder soll es nun so weitergehen in Tel Aviv?

"Ich versuche nur daran zu denken, was ich mir wünsche", sagt Adwa Israeli, "und ich wünsche mir, dass schnell eine Waffenruhe kommt." Die 40-Jährige war zum Zeitpunkt des ersten Alarms in ihrer Wohnung im Hafenviertel von Jaffa. Als die Sirenen schrillten, hat sie sich mit den beiden Kinder in den Raum zurückgezogen, der ihr am sichersten zu sein schien. "Erst als ich den Knall gehört habe, war ich in Panik", sagt sie. Ihr Mann war schließlich noch draußen mit dem dritten Kind. "Ich konnte ihn erst gar nicht erreichen, das Handy-Netz war zusammengebrochen." Zehn Minuten können eine Ewigkeit sein, wenn sie mit Angst gefüllt sind.

Entziehen kann sich auf Dauer niemand diesem Druck, doch die Israelis lernen wahrscheinlich schneller als andere, damit umzugehen. Dani Erdman ist Musiker, mit dem Israelischen Kammerorchester spielte er gerade ein Konzert für Kinder im Kunstmuseum, und der Sirenenalarm hatte keine Chance, in den ziemlich schalldichten Saal vorzudringen. Doch als die Musik verklungen war, da holte die Realität auch das Orchester und die Zuhörer ein. Manche rannten im Eilschritt nach Hause, Dani Erdman versucht es mit Realismus. "Ein bisschen überrascht war ich schon", sagt er, "aber es ist ja auch schon viel darüber geredet worden, dass auch Tel Aviv zum Ziel werden kann." Die Gefahr kennt er aus Kindertagen, sieben Jahre war er 1991 alt bei den Angriffen Saddams. Allerdings glaubt er nicht, dass die Hamas die Möglichkeit hat, täglich mit Raketen auf Tel Aviv zu schießen. Und wenn doch, dann wird er auch das möglichst ruhig über sich ergehen lassen.

"Für mich ist das ein Teil des Lebens", sagt auch Eli Agi. Er ist aufgewachsen mit dem Sound der Sirenen. "1967, im Sechstagekrieg, habe ich die ganze Zeit mit meiner Mutter im Bunker gesessen, 1973, im Jom-Kippur-Krieg, habe ich drei Monate lang in einer Waffenfabrik Sturmgewehre zusammengebaut, und danach war ich bei der Armee", erzählt er. Der 56-jährige Taschen-Designer aus der schicken Shenkin-Street nimmt den Alarm mit größtmöglicher Gelassenheit, Sorgen macht er sich nur um die Familie. Seine Frau stammt aus den USA, "sie hat so etwas zum ersten Mal erlebt", sagt er, "und für sie war es ein großer Schreck." Eine der Töchter ist gerade bei der Armee, auch das ist ein Grund zur Beunruhigung. "Zum Glück ist sie nicht bei einer Kampfeinheit, sonst wäre es schlimmer", sagt er. "Aber ich mache mir auch Sorgen um alle anderen Kinder, hier genauso wie um die in Gaza."

Eli Adi ist einer der vielen Israelis, die verzweifeln an der Politik, die keine Logik mehr erkennen in den Ritualen der Rache und keine Lösung mehr sehen für diesen Konflikt, der sich wieder einmal jeder Kontrolle zu entziehen scheint. Nun müssen sie sich einrichten auf einen möglichen neuen Krieg, und die Armee verbreitet über die Medien Sicherheitshinweise für die Bevölkerung, speziell in Tel Aviv, wo die Menschen bislang noch wenig Erfahrung haben mit der "Alarmstufe Rot".

Wenn die Sirenen klingen, so heißt es, blieben exakt 90 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen - und darum könnten manche die Tel Aviver schon wieder beneiden. In Aschkelon zum Beispiel sind es nur 30 Sekunden vom Alarm bis zum Einschlag.

Direkt an der Grenze zum Gaza-Streifen sind es übrigens nur 15 Sekunden.

© SZ vom 17.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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