RAF-Terrorismus:45 Tage im Herbst

Vor dreißig Jahren begann der fünfte Hungerstreik der RAF-Terroristen - von diesem Zeitpunkt an befand sich die BRD eineinhalb Monate in einem unerklärten Ausnahmezustand. Aus den Lehren des alten Terrors lassen sich wichtige Schlüsse für die Gegenwart ziehen.

Heribert Prantl

Vor dreißig Jahren begann der fünfte Hungerstreik der RAF. Er war vorderhand nur ein Hungerstreik von vielen, mit denen die Gefangenen bessere Haftbedingungen erzwingen wollten. Aber dieser eine Hungerstreik war zugleich der Introitus zu den Schrecken des Deutschen Herbstes, der mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September begann und mit dessen Ermordung am 19. Oktober nicht endete.

Diese 45 Tage, die furchtbarsten Tage der bundesdeutschen Kriminalgeschichte, werden demnächst wieder allüberall nacherzählt werden: Es sind 45 dreißigste Jahrestage. In diesen 45 Tagen regierte in Deutschland nicht die Bundesregierung, sondern ein Großer Krisenstab in einem nicht erklärten Ausnahmezustand.

In diesen 45 Tagen wurden hastig Ausnahmegesetze erlassen, die nun schon dreißig Jahre zu den normalen Regeln zählen. Das, nicht mehr als das, ist von der RAF auf Dauer geblieben.

Zwangssuppe für die RAF

Man wird sich zwei Monate lang erinnern. Man wird das Bild von Schleyer sehen mit einem Pappdeckelschild um den Hals, auf dem in Großbuchstaben steht "Seit 31 Tagen Gefangener der RAF". Man wird die Fotos der "Helden von Mogadischu" sehen, die auf dem somalischen Flughafen die von Terroristen entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" erstürmt haben.

Man wird die Bilder der RAF-Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sehen, die sich selbst töteten, als ihre Freipressung gescheitert war. Man wird auch jene Bilder wieder sehen, die in der Erinnerung schon so vergilbt sind wie die roten Fahndungsplakate: Ein Bild vor allem hatte eine so ungeheuer terrormobilisierende Kraft, dass sich die Sicherheitsbehörden vor diesem Bild fürchteten: Es war das märtyrerhafte Bild vom ausgemergelten Terroristen Holger Meins, der sich 1974 im Gefängnis von Wittlich/Eifel zu Tode gehungert hatte.

Deshalb wurde vor dreißig Jahren ein Zwangsernährungs-Paragraph eingeführt; und in den Zeitungen wurde - meist hämisch, manchmal sorgenvoll - erklärt, was da durch den Schlauch zwangsweise in den Schlund eingeführt wird: "eine Suppe in Viertel-Liter-Menge, wobei jeweils zwei rohe Eier und gerösteter Gries zugefügt wird".

Durch die 9/11-Brille

Heute wird auf die alten RAF-Bilder mit der 9/11-Brille geschaut. Der Selbstmörder von heute verhungert nicht in der Hoffnung, dass sein Tod zum Fanal für noch mehr Terror wird. Der Selbstmörder von heute sprengt sich in die Luft und reißt wahllos eine Vielzahl von Menschen mit in den Tod. Die Erinnerung an die RAF wird überlagert von diesem neuen Schreckensdatum des Jahres 2001.

Und angesichts der Herausforderungen des neuen, des islamistischen Terrorismus wird die RAF-Geschichte bisweilen zu einer Art Gespenstergeschichte gemacht, die damals die entlaufenen Kinder der Bourgeoisie inszeniert haben.

Im Blick zurück nach dreißig Jahren entwickeln sich fast nostalgische Gefühle bei gar nicht so wenigen Zeitgenossen; und die Nachgeborenen, die Kinder der Zeitgenossen, haben die RAF als Pop-Phänomen rezipiert; aus einer terroristischen Marke wurde eine konsumistische: Prada Meinhof, der radikale Chic.

Der amerikanische Historiker Walter Laqueur hat einmal ironisch bemerkt, dass der Terrorismus eine große Faszination ausübe, insbesondere auf diejenigen, die sich in sicherer Distanz befinden. Das gilt auch für die zeitliche Distanz. Selbst die polizeilichen Ermittler und die Sicherheitspolitiker sind davon nicht frei. Bei ihnen ist es nicht eine leicht rührselige Verklärung der alten Zeiten, bei ihnen ist es eher die Aufwertung der eigenen Anti-Terrorarbeit von heute, die insgeheim in den Stoßseufzer mündet: Ach, wie war es ehedem ...

Zellen in Stammheim abgehört

Nein, bequem war die Terrorismus-Bekämpfung damals gar nicht. Der Staat hat alle präventiven und repressiven Mittel genutzt, die er hatte - auch die damals noch illegalen, die heute legal sind. Er hat womöglich auch den siebten Stock des Gefängnisses in Stammheim abgehört, in dem der harte Kern der RAF inhaftiert war.

Er hat dann womöglich gar die Pläne von Baader, Ensslin und Raspe zur "suicide action" belauschen können, die Überlegungen also zum Selbstmord bei Scheitern der Freipressungsversuche. Damals, 1977, begann die Materialermüdung des Rechtsstaats, die bei der Bewertung des katastrophal geführten Stammheimer Strafprozesses, von der Neuen Zürcher Zeitung, der Washington Post und dem Spiegel, noch unisono festgestellt worden ist.

Die Terroristen damals, die Terroristen heute: Die RAF-Terroristen waren nicht so fremd, sie hießen nicht Mohammed oder Arwan, sie waren nicht aus Ägypten oder Saudi-Arabien, sondern entstammten deutschen Pfarrhäusern und Professorenhaushalten. Sie reklamierten, anfänglich jedenfalls, die Werte der Aufklärung für sich und pervertierten sie.

Die Terroristen von heute morden für voraufklärerische Ideale, für den religiösen Fundamentalismus. Verfolger und Verfolgte damals kamen mehr oder minder aus der gleichen kleinen Welt; man wusste, mit wem man es zu tun hatte. Aber was hat man aus diesem Wissen gemacht? Was hat dieses Wissen geholfen? Hat es Anschläge verhindert?

Von den RAF-Terroristen der dritten Generation, die Schwerstverbrechen begangen haben, weiß man bis heute gar nichts. Kein einziger ihrer Morde ist aufgeklärt - nicht der an Zimmermann, Beckurts, Herrhausen, nicht der an Braunmühl und an Rohwedder.

Der Terrorismus von heute ist angeblich so gefährlich, wie noch nie einer war. Wir neigen dazu, Gegenwärtiges als völlig neu und in seinen Auswirkungen einmalig zu begreifen.

Die Lehren aus dem alten Terror

Zu Unrecht, wie der Frankfurter Emeritus Henner Hess in dem von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen vorzüglichen Doppelband über "Die RAF und den linken Terrorismus" schreibt. Bei aller Furchtbarkeit, auch in den Folgen: Die Auswirkungen des Attentats vom 28. Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo waren sicherlich bedeutsamer als die des 11.September 2001.

Liegt man ganz daneben mit dem Verdacht, dass die Einmaligkeit des neuen Terrorismus auch deswegen so betont wird, weil damit die Notwendigkeit entfällt, aus dem alten zu lernen? Und was wäre aus dem alten zu lernen? Zum Beispiel dies: Dass massivste Verfolgung und eine das Recht sprengende Repression die terroristische Gewalt eher am Kochen hält, als dass sie diese beendet.

Nicht zuletzt die Entwertung rechtsstaatlicher Garantien in den RAF-Prozessen und die Kriminalisierung einer großmäulig-kindischen Sympathisantenszene (Haftstrafe für das Pinseln eines RAF-Sterns!) haben damals dazu geführt, dass kleine Fische das geworden sind, was ihnen der Verfolgungsapparat von vornherein unterstellt hatte. Maßlosigkeit, das vor allem gilt für heute, diskreditiert den Kampf gegen den Terrorismus. Übertreibung und Grenzenlosigkeit liefern dessen Sympathisanten die Bestärkung und Verstärkung ihres Feindbildes.

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