Räumung des Lagers:Schlussakt auf der Bühne des Elends

Calais spiegelt schon seit Jahrzehnten die Misere europäischer Flüchtlingspolitik. Anwohner und Hilfsorganisationen bezweifeln, dass das Lager ganz verschwinden wird.

Von Nadia Pantel

Um halb acht am Morgen begannen die ersten im "Dschungel" von Calais Schlange zu stehen. Sie hatten Schlafsäcke und kleine Rucksäcke dabei, einer hielt eine Gitarre über die Köpfe der Wartenden. Die Beamten fragten kurz die Präferenz ab: Bretagne oder Aquitaine? Nord oder Süd? Dorthin sollten sie die wartenden Busse der französischen Asylbehörde bringen. Nur für eine Option konnten sie sich nicht entscheiden: in Calais weiter ihr Glück zu versuchen. Ihr bisheriger Wohnort, das Gewirr aus Zelten und Bretterbuden, das sich Dschungel nennt, wird geräumt. Und so ist Calais für Europa geworden, was vor einigen Monaten das Lager von Idomeni an der griechischen Grenze zu Mazedonien war, als dort Tausende Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Dreck und Kälte darauf warteten, in reichere Länder weiterzureisen: zu einem Symbol für die fehlende gemeinsame Migrationspolitik in der EU.

Es gibt niemanden, für den die Migranten-Kleinstadt von Calais eine gute Lösung war. Bis zu 10 000 Menschen lebten unter miesen hygienischen Bedingungen, dafür aber mit einer improvisierten Schule, mit dem Dschungel-Buchladen, mit Moscheen und Kirchen und kleinen Geschäften auf einem Areal gleich neben der Autobahn, die zum Hafen führt. Von dort sind es noch 50 Kilometer bis nach Großbritannien. 50 Kilometer, welche die Wartenden aus Eritrea, dem Sudan, Äthiopien oder Afghanistan passieren wollten, aber ohne Papiere nicht durften. Also versuchten sie, sich irgendwie in einem der Fahrzeuge Richtung Britannien zu verstecken.

Für die Migranten bedeutete das: ausharren in einem schlammigen Lager, das als Europas größter Slum berüchtigt wurde. Für die Lastwagenfahrer bedeutete das: Nachts in der Angst leben, dass Dschungel-Bewohner eine Straßensperre errichten oder Steine auf die Windschutzscheibe werfen. Zwölf Migranten kamen in diesem Jahr bei dem Versuch ums Leben, den Euro-Tunnel zu passieren. Und für die Bewohner von Calais bedeutete das: Sie werden zu Nachbarn eines rechtsfreien Raums; zudem bleiben die Touristen weg.

In Calais war eine riesige Bühne für das Elend in Europa entstanden, auf der indes ein wichtiger Akteur fehlte: der Staat. Zwischen Juni 2015 und September 2016 war die Zahl der Dschungel-Bewohner von 3000 auf 10 000 gestiegen. Schon seit Ende der Neunzigerjahre spiegeln sich in Calais die Krisen der Welt. Nach dem Kosovo-Krieg campierten in den Dünen am Ärmelkanal Albaner aus der Kriegsregion. In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Syrer und Iraker, die hofften, nach England zu kommen. Im Januar dieses Jahres eröffnete Frankreichs Asylbehörde ein temporäres Aufnahmezentrum im Camp, doch die Haupthoffnung schien zu bleiben, dass sich die Migranten in Luft auflösen mögen. Da das Gegenteil der Fall war, ordnete Innenminister Bernard Cazeneuve die Räumung an. Die Menschen sollen auf 451 Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt werden. In den Aufnahmezentren soll dann geklärt werden, wer Anrecht auf Asyl hat, wer in Frankreich bleiben kann, wer zu Familienmitgliedern nach Großbritannien weiterreisen darf und wer, in Einhaltung der Dublin-Regeln, in das Land abgeschoben wird, in dem er oder sie zum ersten Mal europäischen Boden betrat.

Nicht auf die Aufnahmezentren verteilt werden die mehr als 1200 unbegleiteten Minderjährigen, die im Dschungel leben. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, direkt in Großbritannien Asyl zu beantragen. Die große Mehrheit von ihnen gibt an, dort Familienmitglieder zu haben. Am Wochenende erreichten die ersten 100 Kinder aus Calais die britische Insel, darunter 50 Mädchen aus Eritrea. Englische Boulevard-Zeitungen wie die Daily Mail und die Sun forderten, dass das Alter der Jugendlichen durch medizinische Tests überprüft werden müsse.

Viele rechnen damit, dass nun überall kleine Camps entstehen

Immerhin haben sich die Briten auf die Aufnahme der Minderjährigen eingelassen. Es ist bislang einer der wenigen Versuche, die Situation in Calais mit einem humanitären Anspruch zu lösen. Mehr Energie als in die Versorgung der Migranten und Flüchtlinge war zuletzt in den Bau einer Mauer geflossen. Die britische Regierung hatte dieses Jahr mehr als zwei Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um eine meterhohe Betonabsperrung zwischen Lager und Zufahrt zum Hafen zu errichten. Von französischer Seite wurde diese Mauer begrüßt. Im Gegensatz zu den bis dahin verwendeten Stacheldrahtzäunen lasse sich die Mauer leichter begrünen, hieß es.

Dass die Briten auf französischem Boden eine Mauer bauen dürfen, geht auf ein Abkommen von 2003 zurück. Nicolas Sarkozy, damals Frankreichs Innenminister, einigte sich mit London darauf, dass die Briten vor dem Euro-Tunnel auf französischem Boden kontrollieren dürfen und nicht erst bei der Ankunft in Dover. Eine Regelung, die der heutige Wahlkämpfer Sarkozy am liebsten wieder abschaffen möchte - ohne jedoch zu sagen, wie die Migration zwischen England und Frankreich anders reguliert werden soll.

Dass die laufende Räumung langfristig das Ende des Dschungels bedeutet, bezweifeln sowohl die Einwohner von Calais als auch die Hilfsorganisationen im Dschungel und die internationalen Beobachter. Patrick Kingsley, Migrations-Korrespondent des britischen Guardian, kommentierte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis in Calais wieder Menschen stranden: "Wir können uns nicht entscheiden, ob wir Migration wollen oder nicht. Wir können uns nur entscheiden, ob wir mehr Formen der legalen Migration eröffnen, um mit weniger ungeregelter Migration konfrontiert zu sein."

Noch ist im Dschungel, abgesehen von ein paar Rempeleien, alles friedlich geblieben. Aber die Polizei rechnet mit Ausschreitungen - ganz im Gegensatz etwa zur Auflösung des Lagers von Idomeni. Das liegt an der unterschiedlichen Zusammensetzung der Camps. In Griechenland warteten in erster Linie Familien, in Calais sind junge Männer ohne Kinder in der Mehrheit.

Dennoch könnten die Folgen sehr ähnlich sein. Statt eines großen Camps dürften viele kleine entstehen. So war es jedenfalls in Griechenland. In Thessaloniki zum Beispiel sind Flüchtlinge in verlassenen Häusern untergekommen, die offiziellen Aufnahmezentren sind überfüllt. Die Lebensbedingungen bleiben erbärmlich, der Hauptunterschied liegt darin, dass das Interesse der Öffentlichkeit abnimmt. Denn nach einer Räumung gibt es keinen zentralen Ort mehr, an dem sich das ganze menschliche Drama zwischen Lagerfeuern und Müllhaufen filmen lässt.

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