Radikalisierung junger Menschen:Der Weg in den Terrorismus

Radikalisierung junger Menschen: Etliche islamistische Extremisten stehen in Deutschland vor Gericht - als Terrorverdächtige oder Rückkehrer aus dem Krieg in Syrien

Etliche islamistische Extremisten stehen in Deutschland vor Gericht - als Terrorverdächtige oder Rückkehrer aus dem Krieg in Syrien

(Foto: Ina Fassbender/dpa)

Junge Menschen schließen sich islamistischen Terrororganisationen an und verüben Massenmorde und Anschläge im Namen einer Religion, die sie kaum kennen. Wissenschaftler versuchen zu verstehen, warum.

Von Markus C. Schulte von Drach

Die Zahl der jungen Menschen, die sich inzwischen allein aus Deutschland auf den Weg in den Nahen Osten gemacht haben, um sich den Terroristen des sogenannten Islamischen Staates oder der Nusra-Front anzuschließen, liegt bei 700. Was treibt sie, wie Tausende andere aus Europa, zu den islamistischen Fundamentalisten, die massenhaft Unschuldige ermorden und Gefangenen vor laufender Kamera den Kopf abschneiden? Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Aber etliche Experten haben eine Reihe von Faktoren zusammengetragen, die dabei eine Rolle spielen.

Als Erstes fällt auf, dass die bislang identifizierten jungen Anhänger des IS oder von al-Qaida sehr unterschiedliche Hintergründe haben. Die Attentäter des 11. September 2001 etwa waren strenggläubige, gebildete Muslime fern ihrer Heimat. Attentäter aus Europa waren dagegen Kinder von Einwanderern aus islamisch geprägten Ländern und junge Menschen ohne Migrationshintergrund - christlich erzogen oder keiner Religion zugehörig -, die zum Islam konvertiert waren. Manche waren Studenten, manche Kleinkriminelle, einige nahmen Drogen, einige waren sozial benachteiligt, andere gehörten dem Mittelstand an und hatten Teil am gesellschaftlichen Leben. Eine Studie zu IS-Anhängern in den USA ist jüngst zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.

Probleme bei der jugendlichen Identitätsfindung

Andererseits gibt es zumindest bei den Gotteskriegern aus dem Westen auch deutliche Gemeinsamkeiten. So handelt es sich offenbar eher um gescheiterte junge Leute mit Problemen bei der Identitätsfindung, berichtet der forensische Psychiater Norbert Leygraf, der etliche Terroristen begutachtet hat, im Fachmagazin Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie. Während dieser Identitätsfindung suchen Jugendliche ihre Rolle in der Gesellschaft. Meist passen sie sich - nach mancher Rebellion gegen Eltern und andere Autoritäten - mehr oder weniger an. Bei einigen kommt es jedoch zu starken Gefühlen der Entfremdung gegenüber der Gesellschaft.

Dem amerikanischen Sozialpsychologen Arie W. Kruglanski zufolge kann der Auslöser dafür ein Gefühl der Demütigung, der Hoffnungslosigkeit oder der Frustration sein, verursacht etwa durch Konflikte in der Familie, Diskriminierung, Trennungen, den Tod eines geliebten Menschen oder den Verlust des Jobs. Zurück bleiben junge, unsichere Menschen, die sich ohnmächtig, bedeutungslos, nicht respektiert und ausgegrenzt fühlen. Und einige von ihnen lehnen schließlich das Gesellschaftsmodell vollständig ab, in dem es ihnen so ergeht.

Ruhm und Heldentum

Dabei wünsche sich jeder Ruhm und Bedeutung, sagt Terrorismusexperte Kruglanski. "Wir haben Angst, als Staubkorn in einem Universum zu enden, das sich nicht um uns schert." Was diese "entfremdeten und gelangweilten jungen Männer" deshalb suchen, hat der französisch-amerikanische Anthropologe Scott Atran in Psychologie heute zusammengefasst: Kameradschaft, Wertschätzung und Sinn, aber auch den Nervenkitzel von Action, ein Gefühl von Macht sowie Ruhm. Viele wollten sich für eine aufregende, vielleicht sogar gefährliche Sache einsetzen, die Anerkennung verspricht. Ein Gefühl, das Atran zufolge besondere Bedeutung hat, ist "Erhabenheit", (der Originaltext von Scott Atran hier).

Auch andere Experten weisen auf diese Faktoren hin. "In einer bestimmten Phase sind junge Männer anfällig für radikale Ideen, für die man kämpfen kann und mit deren Hilfe man sich ethisch auch noch besonders erhaben fühlen darf", sagt Norbert Leygraf der FAZ. Manche haben ihm zufolge das Bedürfnis, einer elitären Gruppe anzugehören und für ethisch hochstehende Ziele in den Kampf ziehen zu können. Dazu kommt dem französischen Politikwissenschaftler Olivier Roy zufolge unter Jugendlichen das Gefühl, man müsse unbedingt berühmt sein. "Man muss ein Held sein. Auch wenn man ein negativer Held ist, das spielt dabei keine Rolle", so der Islamismus-Experte im Spiegel.

Psyche und Persönlichkeit

Die allermeisten jungen Menschen im Westen, die massive Probleme mit der Gesellschaft haben, werden trotzdem keine Terroristen. Es müssen demnach weitere, wichtige Faktoren hinzukommen. Dazu gehören Psyche und Persönlichkeit. Zwar gehen Fachleute davon aus, dass Terroristen in der Regel nicht geisteskrank sind. Aber "bei allen Jugendlichen (muslimisch oder nicht muslimisch), die in der Gesellschaft nicht angekommen sind oder die das Gefühl bekommen, dass sie irgendwie nicht dazugehören", gilt dem Psychologen Ahmad Mansour zufolge: "Kommen zu diesen Gefühlen instabile Persönlichkeitsstrukturen, entwickelt sich ein Zeitfenster von ein bis zwei Jahren, in dem sie für eine Radikalisierung sehr anfällig sind". Mansour weiß aus erster Hand, wovon er spricht. Als Jugendlicher war er selbst radikaler Islamist. Heute arbeitet er bei Hayat, einer Beratungsstelle für Aussteiger aus der Dschihadisten-Szene.

Olivier Roy bescheinigt den islamistischen Terroristen im Spiegel "eine moderne Gewaltkultur, die durch und durch narzisstische Ausprägungen hat". Leygraf zufolge wirkte Fritz Gelowicz, Kopf der Sauerlandgruppe, die in Deutschland einen Anschlag geplant hatte, wie "ein narzisstisch geprägter Mensch". Adem Yilmaz, ein weiteres Mitglied der Gruppe, war "von Größenfantasien beseelt". Bei einigen der von ihm untersuchten Terroristen oder Anhängern von Terrororganisationen identifizierte er ein überhöhtes Selbstbewusstsein und aggressive Impulse, auch psychotische Phasen waren vorgekommen. Insgesamt handelte es sich um "primär dissozial auffällige Persönlichkeiten", also um Menschen, deren Empathiefähigkeit eingeschränkt war.

Die Mitglieder der Sauerlandgruppe

Daniel Schneider, Atilla Selek, Fritz Gelowicz und Adem Yilmaz, die Sauerlandgruppe, in Düsseldorf vor Gericht

(Foto: dpa)

Der forensischen Psychiaterin Nahlah Saimeh fällt bei den Betroffenen auf, dass die Ursache für die eigene Unterlegenheit oder die der Gruppe, mit der sich der Betroffene identifiziert, nicht bei sich selbst, sondern "im Außen" verortet wird. "Die Fehlentwicklung lässt sich im Grunde mit dem Prinzip des malignen Narzissmus vergleichen, der in mörderischer Wut und Hass das zu zerstören trachtet, was er als Ursache für die eigene Niederlage und Kränkung ansieht", sagte Saimeh der SZ. "Es werden Grandiositäts- und Triumphfantasien entwickelt, verknüpft mit Rachsucht."

Gefährliche Sehnsucht nach Gruppenzugehörigkeit

Eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung spielt die Neigung des Menschen, Gleichgesinnte zu suchen. Bei den meisten jungen Terroristen findet die Radikalisierung anfänglich in kleinen Gruppen statt. Terroristische Zellen seien häufig nur Banden arbeitsloser, alleinstehender junger Männer, die sich in Cafés, Studentenwohnheimen, Fußballklubs treffen oder in Chatrooms kennenlernen, und plötzlich mit dem Engagement für die neue Gruppe einen Sinn in ihrem Leben finden, sagt Scott Atran. Und bekanntlich tun junge Leute gerade in Gruppen immer wieder dumme Dinge, um ihren Mut und ihr Engagement unter Beweis zu stellen.

Das kann durch eine Ideologie oder Religion verstärkt werden. Nicht nur durch das sprichwörtliche Versprechen eines Paradieses, sondern auch durch das Gefühl der spirituellen Ehrfurcht, das sich einstelle, wenn man sich einem Kreuzzug, einer Berufung, einer visionären Suche oder einem heiligen Krieg anschließe, so Atran. "Menschen definieren ihre Gruppenzugehörigkeit mit abstrakten Begriffen", sagt er. "Sie streben oft nach dauerhaften, geistigen und emotionalen Verbindungen mit Menschen, die sie noch nicht kennen, und sie sind bereit zu töten oder zu sterben, nicht um ihr eigenes Leben oder das ihrer Familie und Freunde zu schützen, sondern für eine Überzeugung - eine metaphysische moralische Vorstellung davon, wer sie sind."

Intuitiv ist das schwer zu verstehen, schließlich steht es dem Lebenserhaltungstrieb entgegen. Es gibt aus biologischer Sicht dafür jedoch eine Erklärung. Ursprünglich entwickelte sich die Opferbereitschaft in Bezug auf die eigene Familie, was offenbar einen evolutiven Vorteil bedeutet hat. Doch wir können auch Nichtverwandte wie Familienmitglieder wahrnehmen. Zu den Faktoren, die dazu beitragen, "gehört unter anderem die Erfahrung, dass man zusammen aufgewachsen ist", schreibt der amerikanische Evolutionspsychologe Steven Pinker in seinem Buch "Gewalt". Aber auch Mythen von einer gemeinsamen Abstammung, gemeinsame Rituale und Leiden, äußerliche Ähnlichkeit - auch künstlich hergestellte - sowie Metaphern wie Bruderschaft, Familie oder Vaterland.

Pinker zufolge bedienen sich auch Militärführer der entsprechenden Kunstgriffe, damit sich ihre Soldaten wie genetische Verwandte fühlen und für einander Risiken eingehen. Teams von Soldaten werden zu Waffenbrüdern, die bereit sind, ihr Leben für das der anderen zu riskieren oder sogar zu opfern. Das vielleicht wirksamste Motiv, zum Märtyrer zu werden, sagt auch Scott Atran, sei die Gelegenheit zur Mitgliedschaft in einer glücklichen Gruppe von Brüdern.

Warum Terror im Namen des Islam?

Viele der betroffenen jungen Menschen sind offenbar auf der Suche nach einer Alternative zu der Gesellschaft, die sie ihrer Wahrnehmung nach über alles belügt, wie die französische Anthropologin Dounia Bouzar vom Zentrum zur Prävention der islamistischen Radikalisierung in Paris sagt. Die Jugendlichen, so Bouzar auf Arte, würden vor allem über das Internet nach und nach in eine Welt versetzt, in der sich alle gegen sie verschworen hätten - unter der geheimen Kontrolle der Amerikaner, der Zionisten oder der Mächte des Bösen. Propagandisten des IS und von al-Qaida feuern diese Vorstellung an und bieten den Jugendlichen ihren fundamentalistischen Islam als Alternative - mit der Möglichkeit, sich an einem vorgeblich ruhmvollen Kampf gegen das Übel in der Welt zu beteiligen.

Der erste Schritt auf dem Weg in den islamistischen Terror ist offenbar der Salafismus. Besonders angesprochen werden davon junge Menschen mit Wurzeln in muslimisch geprägten Gesellschaften. Aber auch Konvertiten, die sich auf der Suche nach einem tieferen Sinn im Leben entschlossen haben, zum Islam überzutreten, sind offenbar anfällig. Schließlich ist gerade der Salafismus mit seinen klaren Aussagen und strikten Regeln besonders geeignet, das Bedürfnis unsicherer Menschen nach politischer und moralischer Gewissheit zu befriedigen. Darüber hinaus macht der Glaube sie zu Auserwählten. Ghaffar Hussain, ein ehemaliger Islamist, der heute bei der Quilliam Foundation Aussteiger betreut, konstatierte im Spiegel den Terroristen ein elitäres Bewusstsein.

Im vermeintlichen Kampf für das Gute

Zwar werden junge Menschen faktisch "nicht deshalb zu Terroristen, weil sie den Koran lesen oder in die Moschee gehen", sagt Olivier Roy. Seiner Meinung nach ist ihr Weg vergleichbar etwa mit dem der RAF-Mitglieder, die sich über linksextreme Ideologien radikalisiert hatten. Andere Terroristen haben für ethnonationale Ideologien oder andere Religionen getötet. Dazu kommt: Nachdem der Kommunismus verschwunden ist, "ist der Dschihad die einzige weltumspannende Sache, sozusagen der letzte globale Grund, den es noch gibt, für etwas zu kämpfen", so Roy im Spiegel. Die Anliegen etwa der Occupy-Bewegung oder von Umweltorganisationen sind für viele zu kompliziert und theoretisch, ihre Sprecher rufen nicht zu einem heldenhaften Kampf auf Leben und Tod auf.

Für Roy findet heute deshalb keine Radikalisierung des Islam statt, sondern vielmehr eine "Islamisierung der Radikalisierung". Allerdings ist eine solche natürlich gerade deshalb möglich, weil Religionen wie der Islam sich mit ihrem Anspruch auf das Wissen um absolute, nicht zu hinterfragende Wahrheiten dafür anbieten.

Die jungen Terroristen betrachten sich als Teil der Umma, der religiösen Gemeinschaft aller Muslime, die aus ihrer Sicht vor der westlichen Barbarei gerettet werden muss - obwohl sie wenig wissen vom Islam und sich kaum in muslimischen Gemeinden engagieren. Der Umma "gilt fortan ihre Loyalität und nichts anderes zählt mehr", sagt Ex-Islamist Hussain im Spiegel. Daraus erwachse dann oft der Drang, Gutes zu tun. Und der lässt sich missbrauchen.

Hier setzt auch die Terror-Propaganda an: So erklärt die französische Anthropologin Dounia Bouzar im Sender Arte den Erfolg der Werbung für den Dschihad bei jungen Männern auch damit, dass sie mit dem Ideal der Ritterlichkeit werben. Zugleich versuchen sie, jene anzusprechen, die sich schon für Gewalt interessieren. "Dieses Profil nennen wir 'Call of Duty', nach dem Videospiel", sagte Bouzar der NZZ. Für junge Frauen, die sich ebenfalls in großer Zahl dem IS angeschlossen haben, "gibt es das Mutter-Theresa-Profil". Ihnen werde etwa gesagt, es sei ihre Pflicht, nach Syrien zu gehen, um dort verletzte Kinder zu versorgen. Ein anderes - virtuelles - Rollenmodell, das von Terroristen offenbar zum Ködern von Mädchen eingesetzt wird, haben die Wissenschaftler nach der kämpferischen Videospielefigur "Lara Croft" benannt.

Dass sie keine echte Gemeinschaft verteidigen, sondern eine, die ihnen nur eingeredet wird, begreifen viele Anhänger des IS und von al-Qaida offenbar nicht - oder zu spät. Denn sie interessieren sich nicht für verschiedene Auslegungen des Koran, sie denken nicht über die Scharia nach. Vielmehr schauen sich die jungen Männer immer wieder Videos an, die Gräueltaten an Muslimen etwa in Bosnien oder Tschetschenien dokumentieren sollen. Sie hören die Propaganda der Terroristen, die sie dazu aufrufen, misshandelte Brüder und vergewaltigte Schwestern nicht im Stich zu lassen.

Selbst die furchtbaren Enthauptungsvideos der IS-Terroristen oder von tschetschenischen Extremisten, die vor der Kamera russische Soldaten köpfen, vermitteln ihnen deshalb keine Übelkeit sondern ein Erfolgserlebnis, wie es etwa der Ex-Propagandist von al-Qaida, Irfan Peci, in seinem Buch "Der Dschihadist" beschreibt. Zugleich stumpfen die jungen Menschen von den blutrünstigen Videos ab

Woher kommt die Bereitschaft zum Mord an Unschuldigen?

Gerade Mitglieder einer Gruppe, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit darüber wähnt, was gut und böse ist, sind anfällig für die Entmenschlichung der Außenstehenden. "Alle, die nicht dem Weg des Erwachens und der Erneuerung folgen, sind in Wirklichkeit keine menschlichen Wesen - sie zu töten, ist kein Verbrechen, sondern sogar Pflicht", beschreibt Dounia Bouzar auf der Spektrum-Homepage die logische Konsequenz der radikalen Abgrenzung. Dazu kommt die eigene Entmenschlichung, "weil das Denken der Gruppe das Denken des Individuums ebenso ersetzt wie seine Emotionen".

In der Vergangenheit haben Massenmörder deshalb auch aus anderen Religionen - auch dem Christentum - und aus quasireligiösen Ideologien wie Nationalismus, Nationalsozialismus und Stalinismus die Rechtfertigung für ihre Verbrechen gezogen.

"Die ganze Geschichte hindurch und in sämtlichen Kulturen wurde Gewalt gegenüber anderen Gruppen von den Tätern als erhabener moralischer Akt dargestellt", sagt Scott Atran. "Denn ohne sich dabei Tugendhaftigkeit anzumaßen, ist es schwer, eine große Zahl von Unschuldigen töten zu wollen." Auch Voltaire hatte bereits festgestellt: "Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Gräueltaten zu begehen."

Utopie als Risiko

Es sind Utopien von einer vollkommenen Welt, für die Anhänger von Ideologien und Religionen in der Regel kämpfen - und gerade das macht sie besonders gefährlich für alle, die ihnen nicht folgen wollen. In einem Utopia wären schließlich alle für alle Zeiten glücklich, schreibt der Evolutionspsychologe Pinker. Deshalb sei dessen moralischer Wert für ihre Anhänger unendlich groß. Was aber ist mit jenen Menschen, die von der Versprechung einer vollkommenen Welt erfahren und sich dennoch dagegen aussprechen? Für die Anhänger der Utopie stehen sie einem Plan im Wege, der zum unendlichen Guten führen kann. Wie böse müssen sie also sein? Aus Sicht der Extremisten darf, ja muss man sie opfern, um das Ziel zu erreichen. Gerade der Westen mit seiner Religions- und Meinungsfreiheit ist übrigens "ein Frontalangriff auf eine Geisteshaltung, die sich eine Welt der Harmonie, Reinheit und organischen Ganzheit ausmalt", so Pinker.

Die Brutalität der Terroristen halten viele Menschen übrigens nur deshalb für unmenschlich, weil sie sie selbst nicht kennen. Dass Gewalt zum Verhaltensrepertoire des Menschen gehört, und es sogar eine Neigung dazu gibt, zeigt ein Blick in den fernen oder auch gar nicht so fernen Spiegel der Vergangenheit - gerade in Deutschland. Und grauenhafte Gewalt kann offenbar großen Spaß machen. Der Psychologe Thomas Elbert, der Beteiligte am Genozid in Ruanda 1994 befragt hat, berichtet in Report Psychologie: "Im Nachhinein beschrieben Beteiligte diese [Morde] als ein regelrechtes Volksfest, ein unerwartetes Vergnügen." Es war lediglich notwendig gewesen, die Opfer zu entmenschlichen, indem sie zu Unmenschen, Ungläubigen oder Verbrechern erklärt wurden, "zur Gefahr, die ausradiert werden muss".

Wege aus dem Terror?

Da die Ursachen, die in den Terrorismus führen können, sich auch in Zukunft nicht alle werden beheben lassen, wird es ihn wohl weiterhin geben. Solange die Angst schon nach einem geringfügigen Ausbruch von Gewalt im Zeitalter der globalen Medien so gewaltige Nebenwirkungen hat, bleibt er für Ideologen ein effektives Werkzeug. Deshalb, so schließt Arie Kruglanski, "wird es immer irgendwo einen Ideologen geben, der die Unzufriedenheit nährt und sich von der Aussicht, dass eine Investition in Terrorismus spektakuläre Renditen erbringen könnte, in Versuchung führen lässt. Ebenso wie es immer einen Bund von Brüdern geben werde, die bereit seien, für eine versprochene Kameradschaft und Ruhm alles zu riskieren.

Vielleicht finden die westlichen Gesellschaften aber wenigstens Wege, Jugendlichen, die eine Identität suchen und gern Helden wären, für andere, tatsächlich wünschenswerte Werte einzunehmen. Denn "wir haben sehr wohl Werte, es sind nur nicht die, die diese Jugendlichen zu Hause oder in der Moschee vermittelt bekommen", sagt Ahmad Mansour in der FAZ.

So gibt es im Westen den Anspruch auf Menschenwürde, Gleichberechtigung, Meinungs- und Religionsfreiheit, Chancengleichheit und auf eine von Gewalt möglichst freie Gesellschaft. Auch diese Werte müssen immer wieder verteidigt werden. Es gibt viele Möglichkeiten, sich für eine gute Sache einzusetzen - ohne sein Leben zu riskieren oder jemanden den Kopf abzuschneiden.

Ein Teil der Aussagen von Scott Atran sind dem Buch von Steven Pinker "Gewalt" entnommen. Eine übersetzte Fassung seines französischen Artikels "État islamique: l'illusion du sublime?" ist auf der Spektrum-Homepage zu finden.

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