Radikale im Nahen Osten:Wie viel Macht den Islamisten?

Nicht nur die Machthaber, sondern auch die radikalen Kräfte in der arabischen Welt wurden von den Protesten überrascht. Dass sie die Macht übernehmen, ist unwahrscheinlich. Europa sollte sich aber einer Machtbeteiligung politisch-islamischer Kräfte nicht entgegenstellen.

Volker Perthes

Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und Experte für den Nahen Osten.

University students from the Muslim Brotherhood protest in Cairo

Studenten der Muslimbrüder protestieren in Kairo gegen Hosni Mubarak.

(Foto: REUTERS)

Die Umbrüche und Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern werfen die besorgte Frage auf, ob jetzt islamistische Kräfte die Macht übernehmen könnten. Die kurze Antwort heißt: Dies ist nicht wahrscheinlich, aber Europa sollte sich einer Machtbeteiligung politisch-islamischer Kräfte auch nicht entgegenstellen. Die längere Antwort besteht aus zwei Teilen.

Zunächst fällt auf, dass die Islamisten in Tunesien und auch in Ägypten von den Protesten genauso überrascht wurden wie die jeweiligen Regierungen. Sie waren schlicht nicht da, und die Generation der gut ausgebildeten, aber wirtschaftlich und politisch marginalisierten 20- bis 30-Jährigen hat auch nicht auf sie gewartet.

Die Muslimbrüder in Ägypten und ihre Ableger in den anderen arabischen Staaten - die Hamas im Gaza-Streifen, die Islamische Aktionsfront in Jordanien, die Muslimbruderschaft in Syrien - sind in gewisser Weise die Zwillinge der herrschenden, nationalistischen Regimes, ihre Lieblings- und Angstgegner. Sie orientieren sich oft an ähnlichen Themen, auch wenn sie unterschiedliche Antworten geben, etwa zum Verhältnis mit Israel. Beide liefern aber keine Antworten auf die Fragen der Generation, die heute - quer durch die arabische Welt - die stärkste ist. "Der Islam ist die Lösung" - dieser Slogan ist für arbeitslose Hochschulabsolventen, die über Twitter und Facebook kommunizieren, nicht mehr überzeugend. Bei vielen sozialen und kulturellen Themen hatten Regime wie das Hosni Mubaraks den Islamisten ohnehin schon lange Raum gegeben - gegen die Interessen all derer, die sich größere Freiräume wünschten.

Es stimmt, dass die Muslimbruderschaft die bislang stärkste organisierte Oppositionskraft in Ägypten ist. Das liegt daran, dass der Versuch von säkularen, liberalen oder linken Gruppen, neue Parteien zu gründen, stets unterbunden wurde. Wie stark oder schwach die Muslimbrüder oder ihre Pendants in anderen Ländern tatsächlich sind, wird sich zeigen, wenn freie Parteigründungen möglich sind und faire Wahlen stattfinden.

Wer die Proteste in Tunesien und Ägypten trägt, sieht in den wenigen Modellen real-islamistischer Herrschaft kein Vorbild. Viele der arabischen Demonstranten haben sich von den Protesten gegen die Wiederwahl des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad inspirieren lassen, über die breit berichtet wurde. Was im Gaza-Streifen unter der Herrschaft der Hamas geschieht, überzeugt die nachwachsende Generation in Ägypten, Syrien, Jordanien oder Algerien auch nicht. Nicht nur, weil die Hamas, die sich selbst von bloggenden Jugendlichen herausgefordert sieht, Solidaritätsdemonstrationen für die ägyptische Protestbewegung verboten und damit gezeigt hat, wo sie in der Auseinandersetzung zu verorten ist.

Die arabischen Gesellschaften sind zweifellos überwiegend konservativ. Für eine fromme, konservative Partei, die wie die türkische AKP vom bürgerlichen Mittelstand und von vielen der kleinen Leute in den Provinzen getragen wird, gäbe es ein echtes Potential. Die Muslimbrüder und ihre Ableger können sich in diese Richtung entwickeln. Es ist nicht sicher, dass sie dies tun. Aber ihre Chancen, die Zukunft ihrer Länder mitzubestimmen, werden steigen, wenn sie dem türkischen Beispiel folgen. Ihre eigene Reformfraktion fordert genau dies.

In Tunesien und der arabischen Welt ist eine neue politische Generation in Erscheinung getreten, die man künftig vielleicht die 2011er nennen wird. Vieles spricht dafür, dass die Muslimbruderschaft und ähnliche Gruppen wissen, dass sie angesichts des von dieser Generation getragenen Protestes nicht mehr die Zukunft darstellen. Sie sind verspätet auf den Zug der Proteste gesprungen, können ihn aber nicht steuern. In Ägypten haben sie deshalb akzeptiert, dass Mohamed ElBaradei die Opposition vertritt, wenn es zu Verhandlungen über eine nationale Regierung oder eine verfassungsgebende Versammlung kommt. Sie haben gleichzeitig erklärt, dass sie die internationalen Verpflichtungen Ägyptens akzeptieren - ein Code dafür, dass sie nicht fordern werden, den Friedensvertrag mit Israel zu brechen.

Westliche Regierungen haben sich zu lang von den Regierungen der arabischen Welt täuschen lassen, wenn diese behauptet haben, es gäbe nur die Alternative zwischen ihnen und den Islamisten. Politisch-islamische Gruppen werden eine Rolle spielen müssen, wenn die Systeme repräsentativer werden. Aber sie werden das politische Feld nicht allein dominieren, wenn ein echter politischer Wettbewerb möglich ist. Allerdings gilt auch: Ohne die in den Gesellschaften verwurzelten moderaten Kräfte des politischen Islam werden Reformen nicht nachhaltig sein und sich ein gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht aufrechterhalten lassen. Es gilt, was das türkische Beispiel lehrt: Politisch-islamische Gruppen lassen sich am ehesten auf eine pragmatische Politik verpflichten, wenn sie in demokratische Institutionen eingebunden werden. Es gibt keine Garantie dafür, dass Inklusion Mäßigung bewirkt. Aber die Erfahrung im Nahen und Mittleren Osten zeigt, dass der Ausschluss relevanter Akteure deren Radikalisierung fördert und sie oft zu Vetospielern macht.

Die europäischen Staaten werden im neuen Tunesien und Ägypten ohnehin mit Akteuren umgehen müssen, die Europa sowohl wegen seiner Politik den alten Regimen gegenüber als auch wegen seiner Nahostpolitik kritisch betrachten. Das gilt für Islamisten wie für säkulare Gruppen. Die Forderung, dass Israel die besetzten Gebiete aufgibt, wird nicht milder ausfallen.

Europa wird engagiert bleiben müssen. Glaubwürdigkeit wird es dabei gewinnen, wenn es dem neuen Tunesien echte Unterstützung bietet. Die Nachbarstaaten werden kaum helfen. Die EU sollte deshalb nicht nur Hilfe bei der Vorbereitung von Wahlen und bei einer Justiz- und Polizeireform anbieten, sondern auch die Märkte weiter für tunesische Produkte öffnen. Europa muss ein klares Signal senden, dass es den sehr viel schwierigeren politischen Wandel in Ägypten unterstützt, der, wenn er gelingt, auch das tunesische Experiment absichern kann. In beiden Fällen heißt dies, mit den für friedliche Veränderung eintretenden Kräften zusammenzuarbeiten. Europäische Staaten - wie auch die USA - haben zu lange auf die autokratischen Eliten, die Verlierer des Umbruchs, gesetzt. Jetzt können sie es sich nicht mehr leisten, den Sieger selbst auszusuchen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: