Fall Puigdemont:Die schwere Entscheidung des Amtsgerichts

Fall Puigdemont: Demonstraten protestieren vor der Justizvollzugsanstalt Neumünster für die Freilassung des ehemaligen katalanischen Regionalpräsidenten.

Menschen demonstrieren vor der Justizvollzugsanstalt Neumünster für die Freilassung Puigdemonts.

(Foto: dpa)
  • Die Entscheidung für oder gegen eine Auslieferung des katalanischen Ex-Präsidenten Carles Puigdemont ist schwierig.
  • Eine Ausnahme für politische Fälle gibt es im Auslieferungsgesetz eigentlich nicht mehr.
  • Unabhängig von der Entscheidung muss die Justiz jetzt Verantwortung übernehmen.

Gastbeitrag von Otto Lagodny

Im Fall der Auslieferung des ehemaligen katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont tragen die deutschen Gerichte eine hohe Verantwortung für ihre Entscheidungen. Es gibt zwar einen europäischen Haftbefehl gegen ihn, doch das Gesetz über internationale Rechtshilfe (IRG) sieht vor: Bevor Puigdemont ausgeliefert werden darf, muss das Oberlandesgericht (OLG) "grünes Licht" geben und die Überstellung an Spanien für zulässig erklären. Oder es stellt die Ampel auf "Rot" und stoppt damit die Auslieferung endgültig. Die Exekutive und damit die politische Ebene darf dann gar nicht mehr entscheiden.

Mit einem "Nein" kann das OLG der Exekutive also "außenpolitische Rückendeckung" geben. Dann nämlich können deutsche Politiker der spanischen Regierung sinngemäß sagen: "Wir hätten ja so gerne ausgeliefert; aber das unabhängige deutsche OLG hat uns einen Riegel vorgeschoben, den wir akzeptieren müssen." Gibt das Gericht jedoch die Bahn frei, darf und muss die Exekutive allein entscheiden, ob die gesuchte Person ausgeliefert wird oder eben nicht.

"Politische Verfolgung" war schon immer ein schwieriger Fall

Das deutsche Auslieferungsverfahren eröffnet in seiner Praxis jedoch eine unrühmliche Reihe von Möglichkeiten, um diese außenpolitische Rückendeckung verschwinden zu lassen. So wurde beispielsweise in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts die rechtliche Frage einer "politischen Verfolgung" als Auslieferungshindernis hin- und hergeschoben zwischen der Justiz und der Exekutive.

Fall Puigdemont: Otto Lagodny, 60, ist Professor für österreichisches und ausländisches Straf- und Strafverfahrensrecht sowie Strafrechtsvergleichung an der Universität Salzburg.

Otto Lagodny, 60, ist Professor für österreichisches und ausländisches Straf- und Strafverfahrensrecht sowie Strafrechtsvergleichung an der Universität Salzburg.

(Foto: OH)

Kein Beteiligter wollte mit seiner Entscheidung die Verantwortung für die Auslieferung beziehungsweise die Nichtauslieferung eines politisch Verfolgten gerade in den Staat übernehmen, in dem man die Gefahr politischer Verfolgung sah. Das führte unter anderem zum Selbstmord eines Menschen - des türkischen Asylbewerbers Cemal Altun -, der auf diese Weise zwischen die Räder der Nichtverantwortung geraten war.

Ein jüngeres Beispiel: Es ging um einen zu befürchtenden Verstoß der USA gegen die Bedingungen der "Spezialität". Danach dürfen die Vereinigten Staaten einen Ausgelieferten zum Beispiel nicht wegen der Tat Nummer drei verurteilen, wenn die Bundesrepublik nur wegen der Taten Nummer eins und zwei ausliefern würde. Der Betroffene hatte mit konkreten Belegen gerügt, dass die USA diese Bedingungen nach erfolgter Auslieferung nicht einhalten würden.

Das OLG hat dies gar nicht berücksichtigt und die Auslieferung für zulässig erklärt. Der strafrechtlich Verfolgte wurde vertröstet: Er solle das doch bitte notfalls nach erfolgter Überstellung in die USA vor den dortigen Gerichten rügen. Das noch vor der Auslieferung dagegen angerufene Bundesverfassungsgericht sah einen Verstoß des OLG gegen Grundrechte. Erst dann nahm das OLG einen zweiten Anlauf und erklärte die Auslieferung für unzulässig. Der "Segen von oben" aus Karlsruhe war schließlich erteilt.

Viel steht auf dem Spiel

Aus deutscher Sicht ist deshalb das Beispiel der Richterin am Irischen High Court, Aileen Donnelly, erstaunlich, die sehr selbstbewusst urteilte. Sie hatte in einem Auslieferungsverfahren durchschlagende Zweifel daran, dass einen strafrechtlich Verfolgten in Polen ein faires demokratisches und rechtsstaatliches Verfahren erwartet. Ein weiteres Beispiel sind niederländische Richter, die vor einiger Zeit eine internationale Zusammenarbeit in Strafsachen mit der Türkei ablehnten - wegen der dortigen rechtsstaatlichen Probleme.

Das Amtsgericht darf keine Verantwortung übernehmen

Freilich trägt auch das IRG selbst dazu bei, dass unklar ist, wie die Verantwortung verteilt ist. Auch bei einem europäischen Haftbefehl muss nach der Festnahme eines Gesuchten das nächstgelegene Amtsgericht entscheiden, ob es eine sogenannte "Festhalteanordnung" erlässt. Das soll angeblich kein Haftbefehl sein, sondern etwas anderes. Dahinter steht Folgendes: Nach Art. 104 Abs. 3 des Grundgesetzes muss jemand, der wegen des Verdachts einer Straftat festgenommen wird, spätestens "am Tage nach der Festnahme" einem Richter vorgeführt werden.

Dieser muss dann sehr schnell einen "Haftbefehl" erlassen oder die Freilassung anordnen. Das OLG hat aber keinen Bereitschaftsdienst. Nun ging der Gesetzgeber des IRG paradoxerweise davon aus, dass der Absatz 3 mit seiner scharfen Frist eigentlich nicht anwendbar ist. Immerhin wurde aber das Amtsgericht aktiviert. Die Praxis hat ihm dann aufgegeben, eine gesetzlich nicht näher geregelte "Festhalteanordnung" zu erlassen. Dabei hat das Gericht in der Sache aber kaum etwas anderes zu prüfen als die Identität des Verfolgten.

Das Amtsgericht darf also schon von Gesetzes wegen keine Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Es handelt sich um einen "amputierten" Richter beziehungsweise eine "amputierte" Richterin. Erst das Bundesverfassungsgericht hat hier wenigstens rudimentäre Entscheidungsmöglichkeiten angeordnet (Beschl. v. 16. 9. 2010 - 2 BvR 1608/07).

Eine Ironie der Geschichte

Wenn man jetzt aber überlegt, was im Fall Puigdemont alles auf dem Spiel steht, und zwar nicht nur individualrechtlich, sondern vor allem europa- und auch weltpolitisch, dann sind erhebliche Zweifel angebracht, ob deutsche Justizjuristinnen und -juristen heute dazu willens oder in der Lage sind angesichts enormen persönlichen Karrieredrucks und der Last der vielen zu erledigenden Fälle. Die Richterinnen und Richter könnten interne und natürlich niemals belegbare faktische Beförderungsnachteile befürchten, wenn sie sich in einem solchen Fall auf ihre richterliche Unabhängigkeit berufen und sich eben nicht den Sachzwängen beugen, die politisch opportun erscheinen.

Die Ironie der Geschichte: Vor knapp 200 Jahren hat das nach-napoleonisch neutrale Königreich Belgien das moderne Auslieferungsrecht geschaffen; das war im Jahr 1833. Zentral war die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten. Belgien (sic!) wollte damals den ausländischen Staat, der Belgien um Auslieferung ersucht, nicht in rein politischen Dingen unterstützen.

Die aktuell zugrunde liegende Causa einer "Rebellion" wäre sicher ein Musterfall dieser ansonsten völlig unklaren Ausnahme gewesen. Sie war eine Art Blackbox für die Ablehnung einer Auslieferung. Mit ihr konnte man alles oder nichts begründen. Mit dem Europäischen Haftbefehl hat man sie abgeschafft, weil man sie in der Europäischen Union nicht mehr brauchte. Der Fall Puigdemont scheint das Gegenteil zu belegen. Aber man braucht die Ausnahme dann nicht, wenn die Justiz die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen übernimmt. Das ist die Konsequenz, wenn man einen solchen Fall - zudem ohne Not - als EU-Musterschüler an sich zieht. Andere Staaten haben sich hier verweigert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: