Prozess um Politkowskaja-Mord:Die Instrumente wehren sich

Der Prozess um den Mord an Anna Politkowskaja zeigt: Es gibt in Russland stolze Menschen, die dem Staat entgegentreten.

Dmitrij Muratow

Dmitrij Muratow ist Chefredakteur der Nowaja Gaseta in Moskau, bei der die Reporterin Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung arbeitete.

Prozess um Politkowskaja-Mord: Im Jahr 2007 präsentierte Dmitrij Muratow ein Buch über die ermordete Anna Politkowskaja

Im Jahr 2007 präsentierte Dmitrij Muratow ein Buch über die ermordete Anna Politkowskaja

(Foto: Foto: dpa)

Am 1. September 2004 wurde Anna Politkowskaja zum ersten Mal getötet.

Ich hatte eine Genehmigung für ihre Reise nach Beslan unterzeichnet. In der Schule Nr. 1 dort wurden Hunderte Kinder als Geiseln gehalten, das Gebäude war vermint, sie bekamen weder zu essen noch zu trinken. Anna wollte sich in Tschetschenien mit dem abgesetzten Präsidenten der Republik treffen, Aslan Maschadow. Er war bereit, sich gegen die Kinder austauschen zu lassen, hatte aber eine Bedingung gestellt: Anna sollte ihn nach Beslan begleiten, denn sonst, so seine Sorge, würde er als gesuchter Terrorist unterwegs ermordet werden.

Anna wurde auf dem Flug von Moskau nach Rostow am Don vergiftet. Sie hatte an Bord nichts gegessen, nur einen Schluck Tee getrunken und sich mit einer Serviette den Mund getrocknet. Im letzten Moment waren ein paar junge Leute eingestiegen. Wer sie waren, haben wir nie erfahren.

Anna kam fast tot in Rostow an. Sie rief die Redaktion an und sagte, sie sei "so gut wie tot". Ihre Bluttests verschwanden auf dem Weg ins Labor. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht mit einem Blutdruck von 40:60. Es fehlten Geräte und Medikamente. Die Ärzte, vor denen ich mich tief verneige, füllten Cola-Flaschen mit kochendem Wasser und legten sie auf ihren Körper, um den Blutdruck zu erhöhen. Ein paar Stunden später kamen wir aus Moskau an, um sie abzuholen. Sie konnte nicht aufstehen und kaum sprechen, verlangte aber, dass man sie nach Beslan bringt. Wir flogen sie nach Moskau ins Krankenhaus.

Die Schule in Beslan wurde gestürmt. Viele Kinder starben dabei. Jahrelang quälte sich Anna mit dem Gedanken, dass sie das Blutbad nicht verhindert hatte. Wegen des Giftanschlags auf sie wurde nie ein Verfahren eingeleitet. Aslan Maschadow wurde später umgebracht.

Schon vor Beslan hatten Militärs in Tschetschenien gedroht, sie zu erschießen. Ein Polizeioffizier in Moskau wollte Anna töten, weil sie herausgefunden hatte, dass er folterte. Wir schickten sie ins Ausland - sie kam zurück. Sie bekam Soldaten als Leibwächter, bewirtete sie ein paar Tage, hörte sich die Geschichten über ihr hartes Leben an und lehnte ihre Dienste dann entschieden ab. Sie fand es peinlich, die Männer von ihrer Haupttätigkeit abzulenken. "Drohungen halten mich nicht zurück, obwohl ich mich oft fürchte", sagte sie. Und dann sagte sie noch: "Wenn Menschen aus Tschetschenien zu mir kommen, die selbst Tragödien erlebt haben, kann ich ihnen kaum noch erklären, dass ich Journalistin bin und keine Oberbefehlshaberin."

Putin: "Ihr Tod hat dem Land mehr geschadet als ihre Arbeit"

500 Reportagen in der Nowaja Gaseta. Dutzende Menschen, die sie vor der Folter gerettet hat. Die Machthaber fürchteten sie, weil sie ein Profi war - und uneigennützig. Einmal fragte eine ausländische Korrespondentin sie: "Wofür machst du das eigentlich?" Und Anna antwortete: "Die Wahrheit ist auch ein Motiv, obwohl nur wenige Menschen daran glauben."

Die Figuren, die sie beschatteten, bevor sie sie am 7. Oktober 2006 um 16.01 Uhr in ihrem Hausflur in der Lesnaja-Straße in Moskau ermordeten, wussten alles über sie. Sie wussten, dass ihre Mutter im Krankenhaus lag und vor einigen Tagen ihr Vater begraben wurde, der auf dem Weg ins Krankenhaus zu seiner Frau einen Herzinfarkt erlitten hatte. Sie wussten, dass sie mit ihrem billigen Auto zwischen der Mutter, der schwangeren Tochter Wera und der Redaktion hin und her raste. Nichts hielt sie auf.

Präsident Wladimir Putin sagte nach dem Mord einen entsetzlichen Satz: "Ihr Tod hat dem Land mehr geschadet als ihre Arbeit". Er hat auf seltsame Art recht. Anna versuchte, in einem grausamen Land den Humanismus zu schützen. Humanismus schadet den Diktatoren. Humanismus lehrt, den Staat als Instrument zu begreifen. Diktatoren wollen das Gegenteil. Die Menschen sind das Instrument, der Staat ist der Sinn, das Ziel.

Die Geschworenen haben einen Tag lang gezeigt, was Würde ist

Entsprechend dieser Vorstellung wurde auch der Prozess wegen des Mordes an Anna eröffnet. Im größten Land der Welt fand sich kein Raum, der mehr als zehn Menschen Platz bot. Der Richter schloss die Öffentlichkeit aus und behandelte die 20 Geschworenen nicht als Bürger, sondern als Instrument in einer politischen Farce. Er erklärte, dass er mit dem Ausschluss der Bitte der Geschworenen entsprochen habe. Diese erklärten empört, das sie Derartiges nie verlangt haben. Diese Geschworenen sind nämlich keine Instrumente, keine Marionetten, sondern Bürger. Anna Politkowskaja hatte recht - es gibt in Russland stolze, verantwortungsvolle Menschen, die der geistigen Korruption Widerstand leisten.

Inzwischen wird der Prozess wieder öffentlich geführt. Der Richter hat keinen Selbstmord begangen, sondern seinen Betrug zugegeben und leitet das Verfahren weiter. Auch die Geschworenen sind geblieben, die einen Tag lang gezeigt haben, was persönliche Würde ist. In diesem Prozess wird nicht nur über die Täter verhandelt (zumal der Mörder sich irgendwo im Ausland versteckt hält und der Auftraggeber immer noch unbekannt ist). Es wird Annas Prozess über die Sicherheitsdienste, über die Geheimpolizei und ihre Agenten, die - vom Staat geschützt - zu allem fähig sind.

Was Anna Politkowskaja nach ihrem Tod allein in den vergangenen Tagen für die Gründung einer freien Gesellschaft und für einen Rechtsstaat geleistet hat, hat in Russland niemand geschafft. Sie musste es allein tun, wieder einmal.

Übersetzung: Irina Djomina

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: