Prozess in München:Die Wahrheit ist zumutbar

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Auch Gehilfen waren Massenmörder: Gegen John Demjanjuk muss verhandelt werden, wenn und solange er verhandlungsfähig ist. Auf die Strafe kommt es vorerst nicht an.

Heribert Prantl

John Demjanjuk war, so wirft es ihm die Anklage vor, Tötungsgehilfe im Vernichtungslager Sobibor. Nach der deutschen Rechtsprechung gab es ja damals überhaupt nur Gehilfen; fast alle waren Gehilfen, auch die Täter. Selbst KZ-Kommandanten waren nicht Täter, sondern Gehilfen. Muss man also 65 Jahre später wirklich noch einen Greis bestrafen, der nach dieser Rechtsprechung allenfalls ein Gehilfengehilfe gewesen ist?

Im Dienstausweis des "Wachmanns" Iwan "John" Demjanjuk ist unter anderem ein Einsatz in Sobibor eingetragen. Der mutmaßliche NS-Verbrecher ist wegen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen im Jahr 1943 angeklagt. (Foto: Foto: dpa)

Achtzig Prozent der Verantwortlichen in den Konzentrationslagern wurden von der bundesdeutschen Justiz als Gehilfen, nur zwanzig Prozent als Täter betrachtet; bei der Ahndung der Morde der Einsatzgruppen im Osten ist das Verhältnis ähnlich: neunzig Prozent sind als Gehilfen, nur zehn Prozent als Täter verurteilt worden. Bei den Schreibtischmördern war es genauso. Den Befehlsgebern der Massenmorde wurde von den deutschen Gerichten zugutegehalten, es sei ja nicht auszuschließen, dass sie "innerlich" die Tötungen abgelehnt hätten.

Kurz gesagt: Die Justiz in den Jahrzehnten nach dem Krieg war eine Täterumwandlungs-Maschinerie; aus Massenmördern machte sie kleine Gehilfen. Die Judikatur gegen NS-Verbrecher beruhte jahrzehntelang auf der Wunschvorstellung, im Nazistaat habe es nur wenige Verantwortliche gegeben, Hitler, Himmler und Göring; alle Übrigen waren angeblich vergewaltigte, terrorisierte Existenzen, die veranlasst wurden, Dinge zu tun, die ihnen völlig wesensfremd waren. So ergaben sich Strafen wie folgt: "Ein Toter gleich zehn Minuten Gefängnis." Das änderte sich erst, als die meisten NS-Verbrecher schon tot waren und eine neue Generation von Richtern urteilte.

Läuft jetzt, 65 Jahre nach dem Massenmord, die Umwandlungs-Maschinerie rückwärts? Macht die Justiz also jetzt aus Gehilfen quasi Täter? Werden jetzt die subalternen Verbrecher bestraft, weil die großen Befehlsgeber gut davongekommen sind? Werden jetzt sehr spät, an den ehemaligen Handlangern der Nazis, die früheren Fehler korrigiert? Herrscht jetzt eine Art nachholende Strafverfolgung am falschen Subjekt? Das ist der Vorwurf, den der Verteidiger von Demjanjuk gegen die Staatsanwaltschaft erhebt. Aber: Der Vorwurf ist falsch. Es darf keine Gleichbehandlung im Unrecht geben. Wäre es denn besser, die Minimalisierung der NS-Verbrechen so lange fortzusetzen, bis der letzte KZ-Wärter friedlich als Rentner gestorben ist?

Gegen John Demjanjuk muss verhandelt werden, wenn er verhandlungsfähig ist. Das ist eine medizinische Frage. Und er muss verurteilt werden, wenn ihm die Taten nachgewiesen werden können. Das ist eine juristische Frage. Er muss auch dann verurteilt werden, wenn andere ehemalige KZ-Wärter nicht vor Gericht gestellt wurden und auch nicht mehr vor Gericht gestellt werden. Auf die Höhe der Strafe kommt es nicht an. Man kann von Strafe oder von ihrer Vollstreckung absehen, wenn sie einem alten kranken Mann nicht mehr zumutbar ist. Die Wahrheit aber ist zumutbar.

© SZ vom 01.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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