Prozess gegen Piraten in Hamburg:"Ich habe gedacht, ich soll hier hingerichtet werden"

Nach 104 Verhandlungstagen, mehr als 200 Beweisanträgen und ungezählten Unterbrechungen geht der Hamburger Piratenprozess seinem Ende entgegen. Erst kurz vor Abschluss des Prozesses brachen die zehn Angeklagten ihr Schweigen. Warum sie in die deutsche Gerichtsmaschinerie geraten sind, verstehen einige von ihnen bis heute nicht.

Kristina Läsker, Hamburg

Urteilsverkündung im Piraten-Prozess fraglich

Es ist ein riesiges Verfahren. Einige der mutmaßlichen somalischen Piraten zu Beginn des Prozesses in Hamburg im November 2010. Die Urteilsverkündung soll nun kurz bevorstehen.

(Foto: dpa)

Im Saal 337 des Strafjustizgebäudes hat es in den vergangenen zwei Jahren viele Emotionen gegeben. Angst, Feindseligkeit, Hass. Jetzt durchdringt Traurigkeit den Raum. Der Piratenprozess in Hamburg nähert sich dem Ende, die Angeklagten haben das letzte Wort.

"Ich war ein einfacher Fischer", erzählt Abdi Y., 23. Irgendwann war das Meer so überfischt, dass er nichts mehr fing. "Ich hatte Hunger, meine Familie hatte Hunger, und Hunger ist blind." Abdi Y. erzählt vom Elend in Somalia, einem vom Krieg zerfetzten Staat, wo der Stärkere überlebt. Als der Hunger zu groß war, paktierte Abdi Y. mit den Piraten. Sie boten ihm ein paar Hundert Dollar, so viel hatte er noch nie besessen. Es tue ihm so leid, sagt er. "Ich habe nie beabsichtigt, ein Seeräuber zu sein."

Abdi Y. sagt, dass er versteht, wenn er eingesperrt wird. Was er nicht versteht: Warum er seit zwei Jahren in diesem Saal rumsitzen muss.

Seit November 2010 läuft der Piratenprozess. Angeklagt sind sieben Männer und drei Heranwachsende, die einen deutschen Frachter überfallen haben. Sie müssen sich wegen erpresserischen Menschenraubs und Gefährdung des Seeverkehrs verantworten. Es ist der erste Piratenprozess auf deutschem Boden seit 400 Jahren. Und der längste. Es gab 104 Verhandlungstage, mehr als 200 Beweisanträge, ungezählte Unterbrechungen.

Eine halbe Million Euro pro Pirat

An diesem Freitag wollen die drei Richter und die zwei Schöffen beurteilen, wer Anführer war und wer bloß Mitläufer. Die Fakten der Kaperung sind längst klar: Am Ostersonntag im April 2010 attackieren die Seeräuber den Frachter MV Taipan. Mit zwei Schnellbooten greifen sie 530 Seemeilen vor der Küste Somalias den Frachter an und klettern an Bord. Sie schießen mit Maschinenpistolen. Die 15 Besatzungsmitglieder haben sich im Schiffsbauch verschanzt. Zuvor hat der deutsche Kapitän einen Notruf an die EU-Mission Atalanta abgesetzt. Stunden später befreit eine Fregatte der niederländischen Marine das gekaperte Schiff und verhaftet die Piraten. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt.

Was überschaubar klingt, ist zu einem Prozess deutscher Gründlichkeit ausgeartet. Jeder der zehn Angeklagten hat zwei Verteidiger an seiner Seite. Hinzu kommen zwei Dolmetscher und etliche Zeugen. Das kommt teuer: Allein bis Januar seien etwa 900.000 Euro für Verteidiger und Dolmetscher angefallen, schätzt die Hamburger Justizbehörde. Ein Anwalt beziffert die Gesamtkosten gar auf fünf bis zehn Millionen Euro. Eine halbe Million pro Pirat. Eine gigantische Summe, die sich der Angeklagte Abdi Y. wohl in keiner kühnsten Vision vorstellen könnte.

Der Prozess ist politisch brisant. Erstmals sollen somalische Seeräuber nach deutschem Recht verurteilt werden. Doch geht das überhaupt? Der ostafrikanische Staat ist vom jahrzehntelangen Bürgerkrieg zerrüttet, es gibt kein verlässliches Rechtssystem. Die meisten Angeklagten sind nie zur Schule gegangen. Sie haben keine Bildung, keine Rechte. Sie haben den Sinn dieser Prozess-Maschinerie erst nach und nach verstanden. "Ich habe gedacht, ich soll hier hingerichtet werden", sagt einer zu Beginn.

Die Staatsanwaltschaft fordert hohe Strafen

So endet mit dem Wissen über den Überfall alle Klarheit. Anfangs schweigen alle Angeklagten beharrlich, selbst zu ihrem Geburtsdatum. Das führt zu seltsamen Verrenkungen. Ärzte ermitteln das Alter der Afrikaner und untersuchen dafür Handwurzeln und Gebisse.

Drei Beteiligte sind seither als minderjährig eingestuft, für sie gilt Jugendstrafrecht. Seit einigen Monaten sitzen sie nicht mehr im Untersuchungsgefängnis, sie gehen zur Schule, sie werden betreut, lernen Deutsch. Wenn sie nicht gerade im Justizgebäude ausharren.

Die Aussagen werden mehr: Einige betonen, dass sie zu allem gezwungen worden seien. Mit Waffen, Alkohol, Drohungen. Klingt plausibel, bis einer das Schweigen bricht. Nach 15 Monaten belastet der Angeklagte Abdul K. viele Mitangeklagte schwer. "Es wurde so viel gelogen hier, man hat das Gericht in die Irre geführt", sagt er.

Der 29-Jährige beschreibt eine professionell geplante Entführung. Ziel ist das Erpressen von Lösegeld über viele Millionen. Er erzählt von Hintermännern auf einem Mutterschiff, von Strukturen der Piraterie. Alle zehn Seeräuber hätten freiwillig mitgemacht, manche als Anführer, manche als Mitläufer, behauptet Abdul K. Er selbst sei bloß Übersetzer gewesen.

Die Lage ist verworren

Mit seinen Aussagen tritt er eine Lawine los. Die Beschuldigten wehren sich. Sie behaupten das Gegenteil: Demnach sei Abdul K. der eigentliche Drahtzieher. Gemeinsam mit Vater und Bruder, der angeblich in Großbritannien lebt und Kontakte zu Waffenhändlern pflegt, soll er die Kaperung geplant haben. Immer wieder tauchen neue Aussagen auf, neue angebliche Beweise, vieles sind Irrwege.

Es ist eine verworrene Lage. Wer verdreht die Wahrheit, wer kommt ihr am nächsten? Seit Anfang September ist klar, dass die Staatsanwaltschaft eher den Aussagen des Kronzeugen Abdul K. glaubt: Die erwachsenen Männer sollen für sechs bis zwölf Jahre ins Gefängnis, fordert Oberstaatsanwalt Ronald Giesch-Rahlf. Für die drei Jugendlichen hält er vier bis fünfeinhalb Jahre Jugendstrafe für angemessen. Abdul K. aber soll belohnt werden für die Aussagen: Der Staatsanwalt hat seine Forderung zuletzt von acht auf sechs Jahre Haft gesenkt.

Bei den Anwälten stößt das auf harsche Kritik. Sie halten die geforderten Haftstrafen für völlig überzogen. Sie plädieren für weit geringere Strafen. Einige wollen, dass das Verfahren eingestellt wird. Wie der Anwalt Thomas Jung: "Es handelt sich bei dem Überfall auf die Taipan um eine Verzweiflungstat, die Menschen ohne Hoffnung und Lebensperspektive begangen haben", sagt er.

Auch der Verteidiger Rainer Pohlen ist schockiert darüber, das die sozialen Umstände in Somalia fast völlig außer Acht gelassen wurden. Die Staatsanwaltschaft werde ihrer Rolle "in keinster Weise" gerecht, moniert Pohlen. "Ich finde das erbärmlich." Etliche Verteidiger drücken aus, was sich über Monate aufgestaut hat. Dass sie das Verfahren in Hamburg für "absurd" halten. Dass das Gericht, viele Tausend Kilometer entfernt von Somalia, gar nicht gerecht über solche Taten urteilen könne. "Solche Verfahren gehören nicht nach Deutschland", sagt Rechtsanwalt Oliver Wallasch.

Abdi Y. hat sich all das angehört. Vieles hat er nicht verstanden. Doch die Ausflüge in den Saal haben ihn auch abgelenkt. Von der Einsamkeit in der Zelle. Dort träumt er oft von seinen Kindern, und wie er ihnen helfen kann, sagt er. Seine Frau ist erschossen worden, während er in Haft saß.

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