Prozess gegen Chodorkowskij:Urteil in der Glaskugel

Eine geringe Strafe für den angeklagten ehemaligen Ölmanager Michail Chodorkowskij müsste im Interesse Moskaus sein. Doch mit der Verschiebung des Urteils fällt das Land in die Zeit der Glaskugel-Weisheiten zurück.

Frank Nienhuysen, Moskau

Russland fällt wieder in die Zeit der Glaskugel-Weisheiten zurück. Tritt Putin wieder an, oder doch Medwedjew? Wieso wurde jetzt das Urteil im Chodorkowskij-Prozess verschoben? Manche entdecken darin ein gutes Zeichen für den Angeklagten, andere ein schlechtes. Vieles deutet jedenfalls eher auf Taktik oder Unsicherheit hin, als dass der Richter nicht rechtzeitig mit seinem epischen Papierwerk fertig geworden wäre. Am Grundsätzlichen ändert all dies wenig: Russland muss sich gesichtswahrend aus dieser Affäre ziehen. Das wird mit einer weiteren mehrjährigen Gefängnisstrafe für Chodorkowskij nicht funktionieren.

Michail Chodorkowski vor Gericht, 2004

Müsste nach rein juristischen Gesichtspunkten freigesprochen werden: Michail Chodorkowskij vor Gericht in Moskau.

(Foto: AP)

Rein juristisch betrachtet müsste der Mann ohnehin freigesprochen werden. Wieso sollte er nach dem ersten Urteil noch Steuern für Öl nachzahlen, das im zweiten Verfahren dann plötzlich als gestohlen erklärt wird? Selbst ehemalige Schlüsselminister fanden im Zeugenstand keine Antwort und sagten deshalb für den Angeklagten aus. Bliebe noch die politische Variante, und genau das macht den Urteilsspruch so schwierig und eine erneute hohe Strafe so riskant.

Präsident und Premier müssten sich dann bei ihren Werbetouren durch die Länder des Westens immer wieder unfreundliche Fragen nach der Rechtstaatlichkeit in Russland anhören. Moskau aber kann sich neues Misstrauen kaum leisten, das gilt für die Politik wie für die Wirtschaft. Denn Russland braucht für seine allumfassende Erneuerung Investitionen aus dem Ausland, es will daher auch jene überzeugen, die noch zögern. Deshalb ,müsste es eigentlich im Interesse Moskaus sein, dass die Strafe für Chodorkowskij gering und damit eher symbolisch ausfällt. Ob das Gericht solcher Logik folgt, ist freilich ungewiss.

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