Prozess gegen Anführer der Gezi-Proteste:Staatsanwaltschaft fordert bis zu 13 Jahre Haft

"Das ist vollkommen lächerlich:" Ein Jahr nach der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Proteste stehen in der Türkei die Organisatoren der friedlichen Proteste vor Gericht. Es drohen lange Haftstrafen.

Die mutmaßlichen Anführer der Gezi-Proteste müssen sich seit Donnerstag vor einem Gericht in der türkischen Metropole Istanbul verantworten. Die Anklage forderte Haftstrafen von bis zu 13 Jahren für die insgesamt 26 Beschuldigten, denen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird.

Eine der Hauptangeklagten, Mücella Yapici, wies die Anschuldigen vor Gericht als "lächerlich" zurück. Menschenrechtsorganisationen kritisierten das Verfahren als "politisch motiviert". Die Angeklagten sind Mitglieder der Organisation "Taksim Solidarität", eines Dachverbandes der Protestbewegung, die im vergangenen Sommer entstanden war.

Eine brutale Polizeiaktion gegen Umweltschützer, die gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park demonstrierten, löste damals landesweite Unruhen aus, in deren Verlauf mindestens acht Menschen starben und rund 8000 verletzt wurden.

"Man kann keine kriminelle Organisation gründen, nur indem man sagt: 'Ich will kein Einkaufszentrum'. Das ist vollkommen lächerlich", sagte Yapici. Die 63-jährige Chefin der Istanbuler Architektenkammer ist ein prominentes Gesicht der Gezi-Proteste. Die Staatsanwaltschaft fordert für sie und vier weitere mutmaßliche Anführer der Gruppe eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren.

Die Protestbewegung sei "sehr friedlich" gewesen, während die Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen seien, erklärte Yapici. "Ich wurde aus kurzer Distanz mit Tränengas beschossen und Freunde, die mir halfen, wurden beim Angriff der Polizei schwer verletzt."

Auch der Generalsekretär der Istanbuler Ärztekammer, Ali Cerkezoglu, wies die Anschuldigungen vor Gericht zurück: "Das einzige Ziel dieses Prozesses ist es, unsere Bewegung in Verruf zu bringen." Vor dem Gerichtsgebäude versammelten sich Anhänger der Protestbewegung, um die Angeklagten zu unterstützen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte eine Einstellung des "politisch motivierten Schauprozesses". Die türkische Menschenrechtsorganisation IHD erklärte, das einzige Ziel des Verfahrens sei es, "die Menschen einzuschüchtern" und kritische Stimmen in der Türkei zum Schweigen zu bringen. Die türkische Justiz hat das Bauprojekt in dem Park inzwischen gestoppt, doch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan brachte das Thema jetzt erneut auf die Tagesordnung.

Kasernengebäude auf Gelände des Gezi-Parks?

Medienberichten zufolge sprach Erdogan in einer Rede vor Politikern seiner Regierungspartei AKP die Möglichkeit eines Referendums über den Plan zur Wiedererrichtung eines osmanischen Kasernengebäudes auf dem Gelände des Gezi-Parks an. Er sei sicher, dass die Wähler im Istanbuler Stadtteil Beyoglu, in dem der Park liegt, das Projekt unterstützen würden, sagte Erdogan. Er verwies auf den Sieg der AKP in Beyoglu bei den Kommunalwahlen im März. Dieser Erfolg sei ein Zeichen dafür, dass die Partei auch ein Referendum über den Gezi-Park gewinnen könne.

Zum Jahrestag der Gezi-Unruhen vor zwei Wochen hatte die Regierung mit einem massiven Polizeiaufgebot Kundgebungen von Regierungsgegnern in Istanbul und anderen Städten unterbunden. Die Sicherheitskräfte gingen mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen Demonstranten vor, mehr als 200 Menschen wurden nach Angaben von Aktivisten vorübergehend festgenommen. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gab es auch in der Hauptstadt Ankara und im südtürkischen Adana.

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