Protokolle:"Wir übertreiben es mit dem Nationalstolz"

Von der Krankenschwester aus der Pariser Banlieue bis zum Front-National-Anhänger aus der Provence: Franzosen erzählen, wie sie die Wahl sehen und was sie bewegt.

Protokolle von L. Al-Serori, D. Grass, J. Hanimann, L. Klimm, L. Volkert und C. Wernicke

Jean-Pierre Muller, 84, früher Arbeiter in einem Pharmakonzern aus L'Isle-sur-la Sorgu

Protokolle: Jean-Pierre Muller

Jean-Pierre Muller

(Foto: Joseph Hanimann)

"Es lebt sich gut in Frankreich. Aber das Problem sind die Araber, Schwarzen, Türken, Rumänen. Wir werden von ihnen überflutet. Ich habe die Veränderungen in der Provence miterlebt. Als Soldat war ich im Algerienkrieg und bedaure noch heute, dass Frankreich das Gebiet aufgegeben hat. Jetzt haben wir die ganzen Leute bei uns, kinderreiche Familien, viele Arbeitslose, die unserer Mentalität immer fremd bleiben werden. Frankreich ist am Ende, wie bald auch Deutschland. In meiner Kindheit war ich öfter in Willingen, weil wir Familie da hatten. Ich war auch später noch dort und konnte feststellen, wie schnell sich die Dinge verändern. Die einzigen Politiker, die das begriffen haben, sind die vom Front National. Seit es diese Partei gibt, also seit 1974, wähle ich für sie. Wobei ich den Vater Le Pen lieber mochte als die Tochter. Er sagte die Dinge mit weniger Umschweifen. Ich finde, Europa ist ganz falsch aufgebaut. Frankreich und Deutschland hätten sich zusammenschließen sollen, mit ein paar nördlicheren Ländern. Von mir aus auch mit Spanien, denn die Spanier haben Ehrgefühl im Blut. Nicht aber die übrigen Faulenzer des Südens. Sie sollte man nicht mehr hereinlassen, wie Le Pen es verspricht."

Catherine Jeandel, 60, Ozeanografin in Toulouse

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(Foto: Privat)

"Es regt mich auf, dass in diesem Wahlkampf über die Anzüge diskutiert wird, die sich François Fillon von einem Anwalt hat schenken lassen, aber nicht über die wirklich wichtigen Themen. Ich bin Ozeanographin und mache regelmäßig Exkursionen über die Weltmeere. Mir ist es wichtig, dass etwas gegen den Klimawandel unternommen wird. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die meisten Menschen auch für dieses Thema begeistern kann. Große Sorgen macht mir, dass Volksvertreter sich immer weiter von den Franzosen entfernen. Die meisten Politiker haben wirklich keine Ahnung von den Problemen ihrer Wähler. Das sage ich, obwohl ich selbst bis vor ein paar Jahren Regionalpolitikerin war. Ich saß eine Amtszeit für die Grünen im Conseil Regional. Ich denke viel darüber nach, wem ich meine Stimme geben soll. Am besten finde ich das Programm des Sozialisten Benoît Hamon. Notfalls stimme ich auch für Emmanuel Macron, damit er und nicht etwa Fillon neben Marine Le Pen in die Stichwahl kommt. Macron ist mir eigentlich zu liberal, doch er ist eindeutig das geringere Übel. Und er hat sich für die EU ausgesprochen. Europa hat viele Fehler. Doch Europa ist gerade wichtiger als Frankreich."

Franck Renda, 51, Unternehmer in Lyon

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(Foto: Privat)

"In meiner Freizeit spiele ich Schlagzeug in einer Rockband. Aber dazu komme ich gerade zu wenig. Wegen der Arbeit - ich führe einen Betrieb mit 15 Angestellten, wir stellen hochwertige Metalle her. Und wegen der Wahlen - denn dieses Mal mische ich mich ein. In Frankreich regiert eine Oligarchie, die sich einen Teufel schert um die Sorgen der Bürger. Die haben völlig den Kontakt zum Alltag der Franzosen verloren. Dagegen setze ich ein Zeichen - ich wähle nicht. Die Zahl der Enthaltungen wird höher denn je sein. Wir, 'les abstentionnistes', sind die größte Partei im Land! Klar gibt es Unterschiede zwischen Le Pen, Macron oder Mélenchon. Aber am Ende geht's denen nur um ihre eigenen Interessen. Alle elf Kandidaten schreiben doch Programme, die sie nie einhalten. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Jetzt sagt man uns wieder, wir sollten für das kleinere Übel stimmen um Le Pen zu stoppen. Nein, die kriegen meine Stimme nicht. Aber ich bleib auch nicht faul zu Hause. Zusammen mit Freunden werde ich am Wahltag ein 'Büro der Enthaltung' aufstellen. Übers Internet rufen wir die Menschen auf, da hinzukommen und sich als ,Enthalter' einzuschreiben, mit Namen und Anschrift. Per Verweigerung treten wir den Politikern am 7. Mai in den Hintern."

Klaartje von Matterhorn, 19, Studentin und Flüchtlingshelferin in Calais

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(Foto: Leila Al-Serori)

"Ich studiere Soziologie an der Universität Rennes, aber pausiere für ein Jahr, um Flüchtlingen in Calais zu helfen. All die Arbeit, die wir hier leisten, sollten eigentlich die Behörden machen. Die Flüchtlinge bekommen nichts zu essen und kein Dach über dem Kopf. Viele kommen zu Fuß. Leider haben wir keine Ressourcen, um ihnen bei der Ankunft zu helfen. Auch kommen immer weniger Spenden an. Viele denken, die Flüchtlingskrise ist vorbei. Aber das ist sie nicht. Ich sehe es als meine Verantwortung, etwas zu tun. Außerdem lerne ich hier viel über mich selbst, lerne viele neue Menschen kennen. Manchmal gibt es Probleme mit Bewohnern aus Calais, die nicht wollen, dass wir helfen. Hin und wieder werden wir verfolgt und beschimpft. Aber das kommt selten vor. Viele sind hilfsbereit und verstehen nicht, warum die Behörden nichts tun. Die Flüchtlingskrise ist in Frankreich immer noch ein sehr sensibles Thema, das viele Politiker gerne aussparen, vor allem jetzt im Wahlkampf. Aber es ist keine Krise, die unlösbar ist. Wenn jede Gemeinde in Frankreich ein paar Flüchtlinge aufnehmen würde, gäbe es kein Problem. Falls die Rechtspopulisten wirklich gewinnen, werden wir noch mehr Arbeit haben. Wem ich meine Stimme geben, weiß ich noch nicht. Aber auf keinen Fall Marine Le Pen."

Danielle Ludon, 71, Krankenschwester in Rente aus Paris Saint-Denis

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(Foto: Christian Wernicke)

"Mich plagen momentan andere Sorgen als die Wahl. Die Polizei hat neulich meinen jüngsten Enkel, er ist 15, stundenlang eingesperrt. Dabei hat er nichts getan, ein Nachbar hat alles beobachtet. Warum, das sagen sie uns bis heute nicht. Auch dem stellvertretenden Bürgermeister von Saint-Denis antworten sie nicht. So ist das bei uns. Die Polizisten sind viel unterwegs in unserem Viertel, die sehen in unseren Jugendlichen nur Kriminelle. Wir leben in der Banlieue. Klar gibt es bei uns Kriminalität, auch Drogenhandel. Ich bin ja nicht blind. Aber würden wir in einem reichen Viertel in Paris leben, wäre meinem Enkel das so nicht passiert. Die feinen Leute da schimpfen uns ,das Ghetto'. Ja, wir sind arm. Aber die allermeisten sind ehrliche Menschen. Ich komme aus Guadeloupe und lebe hier seit 45 Jahren. Ich war Krankenschwester, auch heute helfe ich noch gerne. Ich kümmere mich zum Beispiel um die alte Dame im Haus, die kaum noch gehen kann. Bei der ist oft der Kühlschrank leer. Ihre Rente reicht nicht, also bin ich zum Amt gelaufen und hab für sie Wohngeld beantragt. Ich werde diesmal wohl Mélenchon wählen, den Linken. Das letzte Mal hab' ich für Sarkozy gestimmt, weil ich wusste, dass Hollande nichts bringt. Er hat in fünf Jahren nichts getan. Nichts."

"Wir Franzosen sind Weltmeister im Schlechtreden"

Kayssa Melab, 35, Angestellte im Bauamt von Bordeaux

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(Foto: Joseph Hanimann)

"Auswandern? Daran habe ich bislang höchstens gedacht, weil ich mich nach mehr Sonne gesehnt habe. Was aber würde ich tun, wenn eine fremdenfeindliche Regierung an die Macht käme? Ich weiß es nicht. Meine Eltern kommen aus Nordafrika, ich bin in Frankreich aufgewachsen. Seit meiner Kindheit höre ich die Leute von Le Pen reden, aber persönlich bin ich nie mit ausländerfeindlichen Äußerungen konfrontiert worden. Frankreich ist kein rassistisches Land. Aber leider ein sehr pessimistisches. Wir Franzosen sind Weltmeister im Schlechtreden. Das nervt mich. Es mag ja genug Gründe geben für Unzufriedenheit, aber ich sehe auch viel Gutes: In dramatischen Momenten rücken die Franzosen zum Beispiel besonders eng zusammen. Auch bei Festen, großen Sport- oder Kulturveranstaltungen, sogar bei Streiks haben wir einen starken Sinn für Solidarität. Außerdem bin ich stolz auf den öffentlichen Dienst in Frankreich, auch wenn es oft heißt, wir hätten zu viele Beamte, die zu wenig arbeiten würden. In meinem Berufsalltag erlebe ich das Gegenteil. Als Angestellte der Metropole Bordeaux haben wir praktisch Beamtenstatus, aber noch nie habe ich erlebt, dass ein Kollege seine Arbeitsstunden mit der Stoppuhr gezählt hat."

Emmanuel Cognet, 38, selbständiger Unternehmensberater aus Les Herbiers

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(Foto: Leo Klimm)

"Eine der größten Macken von uns Franzosen ist, dass uns Maß und Mitte fehlen. Entweder wir übertreiben es mit dem Nationalstolz - oder wir verfallen ins andere Extrem und machen uns selber schlecht. Meine Frau und ich meiden die Extreme. Deswegen sind wir vor zehn Jahren aus dem überteuerten Paris in eine Kleinstadt nahe des Atlantik gezogen, um dort Familie und Firma zu gründen. Hier wachsen unsere drei Jungs, der Älteste ist sieben, der Jüngste knapp zwei, im Grünen auf. Unsere Unternehmensberatung, die auf Finanzierung von Start-ups spezialisiert ist, hat inzwischen 17 Mitarbeiter. Ich könnte mich jetzt beschweren und sagen, dass es - anders als man im Ausland meint - auch hier viel zu wenige Krippenplätze gibt. Aber ich will nicht nörgeln. Am 23. April wähle ich Emmanuel Macron, ganz klar. François Fillon ist für mich unten durch. Obwohl ich Unternehmer bin, unterstütze ich nicht die Einschnitte bei den Sozialausgaben, die Fillon plant. Sie würden viele Leute ins Unglück stürzen. Macron fühle ich mich nah. Nicht bloß, weil wir im gleichen Alter sind. Er hat die Chance, Frankreich mit sich selbst zu versöhnen und die politischen Extreme dorthin zu drängen, wo sie hingehören: an den Rand. Vielleicht ist das eine Utopie, aber ich will daran glauben."

Geneviève Pleinfossé, 69 Jahre, Rentnerin aus Nizza

"Ich bin seit 15 Jahren in Rente, nach 37,5 Jahren Arbeit. Ich habe viel gemacht : bin putzen gegangen, habe als Hilfspflegerin gearbeitet und schließlich meine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Die Situation in Frankreich empfinde ich als jämmerlich. Es gibt immer mehr Arbeitslose. Dabei wäre doch genug Arbeit für alle da! Fast jede Woche höre ich von Unternehmen, die hier schließen, weil sie ihre Produktion ins Ausland verlegen. Was die mächtigen Leute interessiert, ist das Geld. Am Menschen sind sie nicht interessiert. Die normalen Menschen schaffen es kaum noch, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Mein Sohn sucht seit Jahren eine feste Stelle und hält sich mit Zeitarbeit als Lkw-Fahrer über Wasser. Er hat seit vier Jahren keinen Urlaub gehabt. Er könne nicht mehr, hat er mir erst vor ein paar Tagen gesagt. Ich bin immer zur Wahl gegangen. Jetzt weiß ich aber nicht, was ich tun soll. Wen sollte ich wählen? Richtig gearbeitet hat von denen doch keiner. Ich war immer stolz darauf, Französin zu sein. Das hat sich jetzt geändert. Ich zweifle an der Aufrichtigkeit unserer Politiker. Es herrscht ein Klima der Lügen und Verleugnungen. Die großen internationalen Unternehmen hauen sich die Taschen voll, unsere Politiker tun es auch. Ich finde das unerträglich. Welches System regiert denn? Sind es die Lobbys?"

Jean-Baptiste Vendeville, 26, Versicherungsangestellter aus Calais

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(Foto: Leila Al-Serori)

"Als Marine Le Pen 2011 Chefin des Front National wurde, bin ich der Partei beigetreten. Sie ist eine Staatsfrau, eine politische Figur wie Wladimir Putin, richtig bewundernswert. Ich will, dass Frankreich den Franzosen gehört. Dass wir hier frei sind. Wir müssen raus aus der EU, die Entscheidungen für uns trifft, die wir nicht wollen. Manchmal habe ich Probleme mit Leuten, die sich Antifaschisten nennen. Mein Auto haben sie demoliert und mich geschlagen. In meinem Umfeld habe ich zum Glück keine Probleme. In meiner Familie denkt zwar nicht jeder so wie ich, aber man respektiert meine Meinung. Ich komme aus einem Dorf nahe der belgischen Grenze. Der Film 'Willkommen bei den Sch'tis' wurde im Nachbarort gedreht. Jetzt ist alles schlechter und unsicherer als früher. Jeder in meinem Umfeld, hat schon mit Kriminalität oder Gewalt zu tun gehabt. Und es gibt immer mehr Arbeitslose. Meine Kinder sollen es einmal besser haben. Derzeit bin ich zwar Single, aber ich würde gerne eine Familie gründen, ein Haus kaufen. Aber hier in Calais mit den immer noch ankommenden Flüchtlingen erscheint mir das zu unsicher. Ich verstehe, dass Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie denken, Frankreich sei das El Dorado. Aber sie sind illegal, sie haben hier nichts zu suchen."

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