Proteste in Syrien:Überwacht und unterdrückt

Syriens Präsident Assad hat beim Amtsantritt Reformen versprochen, doch das Land ist ein Polizeistaat geblieben - verhaftet und gefoltert wird weiterhin. Eine Zivilgesellschaft wird nur simuliert.

Rudolph Chimelli

Syriens Präsident Baschar al-Assad dürfte genau wissen, woran es in seinem Land fehlt. Als er vor zehn Jahren sein Amt antrat - damals gerade 34 Jahre alt - dozierte er: "Wenn sich eine Gesellschaft nur auf eine Sekte, eine Partei, eine Gruppe stützt, kann sie sich nicht entwickeln und nicht blühen." Er sprach von Transparenz, neuen Ideen, konstruktiver Kritik, mutigem Dialog. Doch der beschworene "Frühling von Damaskus" war zu Ende, bevor er richtig begonnen hatte.

Pro-government protesters rally in Damascus

In Syrien gingen in den vergangenen Tagen auch Menschen für Präsident Assad auf die Straße. Der sprach bei seinem Amtsantritt von Transparenz. Doch der beschworene "Frühling von Damaskus" war zu Ende, bevor er richtig begonnen hatte.

(Foto: dpa)

Die alte Garde der Offiziere und Sicherheitsleute, die der junge Präsident von seinem Vater Hafis al-Assad geerbt hatte, machte ihm glaubhaft, dass sich die Macht mit solchen Vorstellungen nicht erhalten lasse. "Syrien ist nicht mehr der Polizeistaat wie unter Onkel Hafis", protestiert der in London lebende Cousin des Staatschefs, Ribal al-Assad. "Sogar in den Ministerien macht man Witze über das Regime, und eine kritische Bemerkung über Baschar bedeutet keinen Besuch von Geheimagenten in Zivil mehr."

Die Geheimpolizei überwacht jeden

Die Unterdrückung hat nachgelassen. Doch weiterhin überwacht die Geheimpolizei jeden und alles, verhaftet und foltert, wenn sie es für angebracht hält, und lässt keine unabhängige Organisation zu. Im Gegensatz zu früher gibt es Nichtregierungsorganisationen (NGO), die eine funktionierende Zivilgesellschaft simulieren sollen. Ein syrischer Journalist nennt sie "Gongos", Government-NGO.

Hätte Baschar al-Assad seine theoretischen Erkenntnisse von damals verwirklicht, dann wäre entweder der jetzige Aufruhr überflüssig oder er selber längst nicht mehr am Ruder. Armee und Sicherheitskräfte sind weiterhin in der Hand von Alawiten, einer schiitischen Minderheit aus dem Nordwesten des Landes, die höchstens fünfzehn Prozent des Volkes umfasst. Zwar hat sich die alte Abneigung der sunnitischen Mehrheit, zu der drei Viertel der Bevölkerung gehören, wegen des Wirtschaftswachstums wenigstens im bürgerlichen Mittelstand gemildert. Doch es genügt ein Funken, um die Lage explosiv zu machen. Der ägyptische TV-Prediger Jussuf Karadawi, den über den Sender al-Dschasira die ganze arabische Welt hört, rief die Sunniten Syriens dazu auf, ihre Rechte geltend zu machen. Hunderte kleine Freitags-Imame gaben seine Botschaft weiter.

Für die Unterdrückung der Unruhen in Deraa hatte Assad die 4. Division unter dem Kommando seines Bruders Maher zur Verfügung. Sie ist der einzige Verband, der nur aus Alawiten besteht. In allen anderen Einheiten stellen Sunniten die Mehrheit der Soldaten. Falls die Proteste sich auf andere Teile des Landes ausdehnen und anhalten, könnte ihre Loyalität zweifelhaft werden.

Die Türkei will einen Umsturz verhindern

Assad senior hatte die Muslim-Brüder ausgerottet. Aber das große Massaker von Hama, bei denen die Truppen des Präsidenten-Bruders Rifaat Zehntausende metzelten, sind unvergessen. Die Bitten von syrischen Muslim-Brüdern im Exil, die automatische Todesstrafe für ihre Anhänger abzuschaffen, hatte Assad junior im vergangenen Jahr, als er noch unbestritten herrschte, ignoriert. Jetzt fühlen sie sich durch die Erfolge ihrer Brüder in Ägypten und Tunesien gestärkt.

Der türkische Premierminister Tayyip Erdogan sagte am Montag, Assad habe ihm in zwei Telefonaten versichert, auf die Stimme des Volkes zu hören. Er arbeite daran, den Ausnahmezustand aufzuheben. "Assad sagte auch, er arbeite an politischen Parteien", fuhr Erdogan fort. "Wir wiederum hoffen, dass diese Maßnahmen verwirklicht werden und nicht nur Versprechungen bleiben."

Die Türkei ist nicht der einzige Staat der Region, der keinen Umsturz in Damaskus will. Saudi-Arabien arbeitete nach dem Mord am libanesischen Expräsidenten Rafik Hariri aktiv an Assads Sturz. Das ist längst vorbei. Und nach allem, was sie in jüngster Zeit erlebt haben, wollen die Saudis keinen Regimewechsel in der arabischen Welt mehr. Libanons jetzige, von der schiitischen Hisbollah getragene Regierung hat zu Assad gute Beziehungen. Als sich die Ägypter gegen Präsident Hosni Mubarak erhoben, hielten die USA dessen Streitkräfte diskret zur Abkehr von ihrem Chef an. Amerika ist mit dem ägyptischen Militär durch Rüstungshilfe und persönliche Beziehungen eng verbunden.

In Kreisen syrischer Offiziere verfügt Washington über keine Hebel, um sie zum Abfall von Assad zu bewegen. Seine engsten Verbündeten, die Iraner, wollen seine Macht gleichfalls erhalten sehen. Wie in Ägypten, Tunesien, Saudi-Arabien oder im Jemen ist auch in Syrien das Fehlen von Perspektiven für die Jugend ein Hauptgrund der Unzufriedenheit. Junge Syrer sind gut ausgebildet. Doch der Staat und seine Unternehmen bieten weniger Jobs als früher. Von den Arbeitslosen unter 30 Jahren hat fast die Hälfte studiert.

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