Proteste in Kairo:Mursis Alleingang treibt Ägypter zurück auf den Tahrir-Platz

Er will die absolute Macht, nun schlägt ihm die Wut des Volkes entgegen: Ägyptens Präsident Mursi hat die Justiz ausgeschaltet und sich offenbar mit dem Militär arrangiert - doch sein Einfluss ist nicht unbegrenzt. Die Rücksichtslosigkeit des Präsidenten eint seine Gegner, Demonstranten rufen nach dem Sturz der Regierung. Parteibüros brennen.

Sebastian Gierke

Es ist ein flammendes Zeichen der Unzufriedenheit: Gegner des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi haben in drei ägyptischen Städten die Zentralen der aus den Muslimbrüdern hervorgegangenen Partei für Freiheit und Gerechtigkeit in Brand gesteckt.

Nach dem perfekt getimten Politik-Coup vom Vorabend wächst die Furcht vor einer neuen autoritären Herrschaft im Land. Mursi, der bis zu seinem Amtsantritt der Muslimbruderschaft angehörte, ist es gelungen, seine Befugnisse quasi im Handstreich zu erweitern. Er stattete sich selbst mit fast unbegrenzter Macht aus, entzog sich außerdem der Kontrolle der Justiz. Zudem ersetzte der Staatschef den unter Mubarak ernannten Generalstaatsanwalt und will alle Prozesse gegen Regimegrößen neu aufrollen.

Muss Mursi jetzt also niemanden mehr fürchten? Wird er zum neuen Pharao, wie Kritiker bangen? Er, der bei der Präsidentenwahl überhaupt nur angetreten war, weil ein anderer Kandidat ausgeschlossen wurde, und der deshalb als "Ersatzrad" verspottet wurde?

Bereits im August gelang dem Präsidenten, was ihm kaum jemand zugetraut hatte: Er entmachtete den damals herrschenden Militärratschef Tantawi und beendete de facto so die eineinhalbjährige Militärherrschaft. Über die Rolle des Militärs in Ägypten ist seither immer wieder gerätselt worden. War der Militärrat wirklich nur ein Papiertiger? Schwer zu glauben. Seit mehr als 60 Jahren, seit der Machtübernahme der "Freien Offiziere" im Juli 1952, hat das Militär in Ägypten immer eine entscheidende Rolle gespielt.

Militär mit schwarzen Kassen?

Tatsächlich ist es Mursi nicht gelungen, die Macht des Militärs vollständig zurückzudrängen. Zwar wurde ein vom Militärrat erlassener Verfassungszusatz, mit dem das Militär seinen Einfluss festschreiben wollte, außer Kraft gesetzt. Allerdings legten am gleichen Tag, als Tantawi und Generalstabschef Sami Annan im Präsidentenpalast von ihrer Entlassung erfuhren, bereits deren Nachfolger ihren Eid ab. Die Militärs verkauften das als mehr oder weniger reibungslose Machtübergabe an die nächste Generation von ägyptischen Generälen.

Auch Florian Kohstall, der Leiter des Verbindungsbüros der Freien Universität Berlin in Kairo, glaubt, dass das Militär unter Mursi immer noch eine starke Position innehabe. Mit der Entlassung Tantawis habe Mursi es auch "aus der Schusslinie genommen". Die Kritik jedenfalls richtete sich danach auf ihn. "Und seine große Wirtschaftsmacht besitzt das Militär ja noch", sagt Kohstall. Tatsächlich wird immer wieder von schwarzen Kassen berichtet, aus denen sich das Militär beinahe nach Belieben bedient.

"Herrscher auf Befehl Gottes"

Dass sich die Regierung und das Militär die Macht stillschweigend aufgeteilt haben, das glaubt Hamadi El-Aouni, Ägypten-Experte an der FU Berlin und Unterstützer der Demokratiebewegung im arabischen Raum. "Solange sich der Islamist Mursi seiner Macht nicht hundertprozentig sicher ist, muss er das Militär einbinden", sagt El-Aouni.

Und bereits im August schrieb der Ägypten-Experte Stefan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dass der Demission Tantawis keinesfalls ein "ziviler Putsch" vorausgegangen sei. Vielmehr habe es sich um einen lange geplanten geordneten Übergang gehandelt. Teil dieses Übergangsplans sei es, dem Militär in der neuen ägyptischen Verfassung, die gerade ausgearbeitet wird, weitreichende Befugnisse auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik einzuräumen. Ein Vetorecht zum Beispiel.

Doch gerade auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik hat man vom Militär in den letzten Tagen kaum etwas gehört. Mursi war es, zusammen mit den Geheimdiensten, der sich in den Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas im Nahostkonflikt als Vermittler hervorgetan hat. Seine Position konnte er damit nicht nur international, sondern auch innenpolitisch entscheidend stärken.

Aus dieser Position der Stärke heraus konnte er jetzt sein umstrittenes Dekret erlassen. Im Oktober noch musste er die jetzt reibungslos über die Bühne gegangene Entlassung des Generalstaatsanwaltes Abdel Maguid Mahmud aufgrund des Widerstandes einflussreicher Richter wieder zurücknehmen. Mehr als peinlich für den Präsidenten.

Ob jetzt allerdings wirklich alle aus dem alten Regime-Mubaraks zur Verantwortung gezogen werden, so wie Mursi das angekündigt hat, bezweifelt Kohstall. Dazu hätten die Richter im Land noch zu viel Macht. Und auch mit dem Militär werde sich Mursi weiter arrangieren müssen. Mit seiner Ankündigung wolle Mursi vielmehr die Situation im Land stabilisieren, sagt Kohstall.

Tatsächlich ist in jüngster Zeit, davon zeugen nicht nur die Karikaturen an den Wänden in der Mohammed-Mahmoud-Straße, der Unmut in Ägypten deutlich gestiegen. "Die Unzufriedenheit ist groß", berichtet Kohstall aus Kairo. Am Freitag-Vormittag schon erzählt er: "Die Stadt steht bereits still, es ist schwer, ein Taxi zu bekommen."

Am Nachmittag fliegen die Brandbomben auf Parteibüros der Islamisten. In mehreren Provinzen kommt es zu Massenschlägereien. Die Konfrontation zwischen liberalen Kräften und Islamisten in Ägypten ist seit dem Sturz Mubaraks noch nie so heftig gewesen, wie an diesem Freitag. In erstaunlich großer Anzahl sammelten sich die Gegner Mursis auf dem Tahrir- Platz.

"Für uns geht es jetzt um Leben und Tod, da darf niemand schweigen", erklärt ein christlicher Aktivist. Er hat Angst, dass die Muslimbrüder Ägypten zu einem Staat machen, der die bürgerlichen und persönlichen Freiheiten seiner Bürger massiv einschränkt und alle - Christen und Muslime - in das Korsett der Scharia zwängt.

"Mohammed Mursi Mubarak" steht auf dem Plakat, das ein junger Demonstrant vor der Brust trägt. Ein anderer Aktivist hält auf dem Tahrir-Platz ein Transparent hoch, das den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi als Pharao mit der Maske von Tutenchamun zeigt. Ihre Botschaft lautet: Ägyptens neuer Präsident ist ein undemokratischer Herrscher und damit nicht anders als sein Vorgänger, der 2011 entmachtete Husni Mubarak.

Mursi weiß um die Gefahr, die ihm von der Straße droht. Deshalb ist er am Freitag selbst auf die Straße gegangen. Vor Teilnehmern einer Kundgebung von Islamisten vor dem Präsidentenpalast erklärte er am Freitag: "Ich hatte versprochen, dass ich mich einmischen würde, um die Nation vor Gefahren zu schützen, und das habe ich nun getan." Die aktuellen Unruhen bezeichnete er als Ergebnis einer Verschwörung von "Gegnern im Ausland und einigen Überbleibseln des alten Regimes, die nicht wollen, dass Ägypten auf die Beine kommt".

Dass das reicht, um die Menschen zu beruhigen, bezweifelt Hamadi El-Aouni, selbst ein engagierter Gegner der in einigen arabischen Staaten regierenden Islamisten. Er erwartet, dass die Menschen wieder regelmäßig auf die Straße gehen. Er geht sogar noch weiter. "Ich bin mir absolut sicher, dass es zu einer zweiten Revolution kommen wird." Die Menschen würden sich nicht damit abfinden, dass unter der Regierung Mursi "Freiheit, Menschenwürde und Unversehrtheit" immer weniger garantiert seien.

Die Opposition galt bislang als zerstritten - nun könnten Mursis Allmachtfantasien die Gegner einigen. Einige bekannte Oppositionelle rufen bereits zu gemeinsamen Protesten auf und kritisieren den Präsidenten scharf. Wael Ghoneim, eine der Symbolfiguren der "Revolution des 25. Januar" zum Beispiel. Der Blogger, der 2011 zu den Organisatoren der ersten Proteste gegen Mubarak gehört hatte, erklärte: "Das Volk hat keine Revolution gemacht, weil es einen gerechten Diktator wollte." Und der ägyptische Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei sagte, die Revolution sei damit abgewürgt worden. Mursi habe sich selbst zum "Herrscher auf Befehl Gottes" ernannt.

Die Teilnehmerzahl der geplanten Anti-Mursi-Proteste am Freitag ist ein erster Gradmesser für die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die Mehrheit im Volk, da ist sich Experte El-Aouni sicher, sei gegen Mursi.

Tatsächlich sind bei der Stichwahl zwischen Mursi und Ahmad Schafiq, einem Vertreter des alten Regimes, nur 50 Prozent der Ägypter zur Wahl gegangen. Wegen fehlender Alternativen. Und davon haben nur 51 Prozent Mursi gewählt.

Seine demokratische Legitimation erscheint unter diesem Gesichtspunkt nicht sonderlich stark ausgeprägt, seine Position deshalb nicht so unerschütterlich, wie es nach dem Erlass des Dekrets wirken mag. Das ägyptische Volk weiß im Jahr 2012 besser als je zuvor, über welche Macht es verfügt. Nun hat der Präsident einen Anlass gegeben, sie zu nutzen.

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