Proteste in der Türkei:Polizeigewalt erzeugt Polizeigewalt

Gummigeschosse und Tränengas gegen Feuerwerkskörper: Türkische Sicherheitskräfte gehen in Istanbul gegen Demonstranten vor.

Gummigeschosse und Tränengas gegen Feuerwerkskörper: Türkische Sicherheitskräfte gehen in Istanbul gegen Demonstranten vor.

(Foto: AFP)

Die Proteste gegen die Regierung von Premier Erdoğan nehmen zum Ende der Urlaubszeit wieder zu. Im Süden der Türkei stirbt ein 22-Jähriger - über seinen Tod kursieren unterschiedliche Versionen. Fest steht, die Polizei geht weiter brutal gegen die Demonstranten vor und provoziert neue Gewalt.

Von Martin Anetzberger

Zwei Versionen existieren über die Geschehnisse, die am vergangenen Montagabend zum Tod von Ahmet Atakan geführt haben sollen. Unumstritten ist: Der 22 Jahre alte Mann starb nach regierungskritischen Protesten in der südtürkischen Stadt Antakya an seinen Kopfverletzungen.

Laut Behördenangaben fiel Atakan von einem Dach, als er Steine auf Polizisten warf. Der Tageszeitung Hürriyet Daily News zufolge will die Polizei dafür sogar einen Videobeweis haben. Innenminister Muammer Güler bestätigte, dass die Polizei nicht beteiligt gewesen sei. Das Blatt zitiert jedoch auch einen Arzt, der angeblich bei der vorläufigen Autopsie des Toten dabei gewesen ist. Demnach sagte der Mediziner, es gebe keinen Hinweis darauf, dass der Mann von einem Gebäude gestürzt sei. Die Nachrichtenagentur Dogan meldete, der vorläufige Autopsie-Bericht führe "Hirnblutungen" als Todsursache an. Verwandte, Augenzeugen und Aktivisten hatten angegeben, der junge Mann sei von einer Tränengaspatrone der Polizei am Kopf getroffen worden.

Barbara Neppert, Türkei-Expertin von Amnesty International, sagte Süddeutsche.de, die türkische Polizei wende nach wie vor unverhältnismäßige Gewalt an. Ihr Verhalten habe sich seit der gewaltsamen Auflösung der Proteste gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Juni nicht geändert. Eine Gefahr stellten vor allem die Metallhüllen der Tränengasgranaten dar, die teils gezielt auf Menschen geschossen würden. "Das kann zu Hirnblutungen führen", sagte Neppert. Ihre Organisation könne sich aber konkret zum Fall Atakan jetzt nicht äußern. Der Vorfall müsse erst unabhängig überprüft werden.

Staatspräsident Abdullah Gül bedauerte den Todesfall. Der Vorfall werde gründlich untersucht, sagte er. "Wie ich das verstanden habe, ist es ein umstrittenes Thema."

Welche der Darstellungen zum Tod des jungen Mannes stimmt, lässt sich derzeit kaum feststellen. Doch so oder so: Die türkische Regierung unter Premier Recep Tayyip Erdoğan hat zwei grundlegende Probleme. Viele türkische Bürger glauben ihrer Geschichte vom steinewerfenden Demonstranten nicht, der selbst schuld an seinem angeblichen Sturz vom Dach ist. Schon am Dienstag gingen in mehreren Städten erneut Tausende Menschen auf die Straße, um gegen ihre Führung zu demonstrieren.

Schnellstraße durch den Campus

Am Abend versammelten sich allein in Istanbul 3000 Menschen im Stadtzentrum. Die Polizei ging hart gegen die zumeist friedlichen Demonstranten vor. Sie setzte erneut Tränengas und auch Gummigeschosse ein, um die Menschen vom Taksim-Platz zu vertreiben und drängte sie in eine Einkaufsstraße. Augenzeugen berichteten, dass auch auf Unbeteiligte gezielt worden sei. Einige Demonstranten zündeten Feuerwerkskörper und Bengalos. Hürriyet Daily News zufolge löste die Polizei auch Versammlungen in Izmir und Ankara gewaltsam auf. In der Hauptstadt demonstrierten ebenfalls 3000 Menschen gegen die Polizeigewalt und den Bau einer Schnellstraße mitten durch das Gelände der Technischen Universität des Nahen Ostens, ODTÜ.

Hier offenbart sich neben dem Verlust der Glaubwürdigkeit ein weiteres Problem für die konservativ-islamische Führung in Ankara. Sie reagiert auf wütende Proteste ihrer eigenen Bürger mit Gewalt. Die Sicherheitskräfte provozieren sogar Gewalt unter ihren eigenen Landsleuten, um diese dann wieder mit Gewalt zu bekämpfen - und das nicht zum ersten Mal. Der Protestmarsch in Antakya in dessen Folge Atakan starb, fand statt, um an einen bereits im Juni getöteten Demonstranten zu erinnnern.

Ausgelöst hatten die Demonstrationen ursprünglich Pläne der Regierung, den Gezi-Park nahe des Taksim-Platzes in Istanbul zu bebauen. Mittlerweile richten sich die Proteste aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil Erdoğans. Seit Ende Mai kommt es immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei, insgesamt starben dabei unterschiedlichen Angaben zufolge sechs oder sieben Menschen, darunter ein Polizist.

Tee und Kaffee für Anhänger der AKP

Amnesty-Mitarbeiterin Neppert glaubt nicht, dass sich die Proteste der türkischen Bürger in nächster Zeit abschwächen werden. Den relativ ruhigen August erklärt sie mit dem heißen Sommer und der Urlaubszeit. "Ich denke, da ist eine Bewegung in Gang gekommen", sagte sie. Sie brandmarkt vor allem die Beschränkungen des Demonstrationsrechts in der Türkei. Regierungskritische Kundgebungen würden nur weit abseits der Stadtzentren genehmigt. Anhänger der Regierung dürften ihre Kundgebungen hingegen in der Innenstadt abhalten und bekämen dazu noch Tee und Kaffee von der AKP.

Für die These von einem Abflauen der Proteste während des Urlaubs und der Semsterferien spricht auch der Internet-Auftritt der Protestbewegung Taksim Solidarity. Gleich nach dem Tod Atakans am 10. September veröffentlichte sie einen pathetischen Appell mit dem Titel "Genug ist genug". Darin kritisiert sie die unmenschlichen Angriffe der Polizei und kündigt an, ihr Eintreten für die Versammlungsfreiheit und ihren gewaltfreien Kampf für ihre getöteten Mitstreiter fortzusetzen. Der vorangegangene Eintrag datiert vom 19. Juli.

Mit Material von AFP und dpa.

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