Proteste in Brasilien:Schule im Schatten der Macht

Proteste in Brasilien: Unterhalb der Tribüne: Die Friedenreich-Grundschule gilt als Symbol für die gelungene Verbindung von Sport und Bildung. Viele fragen sich, warum sie Investoren weichen soll.

Unterhalb der Tribüne: Die Friedenreich-Grundschule gilt als Symbol für die gelungene Verbindung von Sport und Bildung. Viele fragen sich, warum sie Investoren weichen soll.

(Foto: Peter Burghardt)

Der Protest in Brasilien geht weiter - und der Unterricht auch: Gleich neben dem Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro steht die zehntbeste Volksschule des Landes. Wegen der Fußball-WM 2014 soll sie Parkplätzen und Einkaufszentren weichen. Der Widerstand der Eltern und Lehrer ist zum Symbol des Aufstands geworden, der sich gegen Habgier und Willkür der Herrschenden richtet.

Von Peter Burghardt, Rio de Janeiro

Man übersieht die Schule in diesen Tagen fast, dabei klebt sie am Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro. Vor der berühmtesten und derzeit umstrittensten Fußball-Bühne der Welt stehen Absperrgitter und weiße Zelte, sie verdecken die Escola Municipal Friedenreich. Aber der Unterricht geht während dieses Konföderationen-Pokals weiter und der Aufstand erst recht. Die 300 Grundschüler in ihren blauen Kurzhosen und weißen T-Shirts mit dem Schriftzug "Rio" laufen über den asphaltierten Sportplatz in die Klassenzimmer, direkt unter der Tribüne. Davor sitzt die Sportlehrerin Andréa Filardi; drinnen dürfte sie nur mit Erlaubnis der Stadtverwaltung mit Journalisten sprechen. Sie sagt: "Es war immer mein Traum, mal zu einer WM zu fahren. Jetzt kommt die WM zu uns, aber sie wollen unsere Schule kaputt machen."

In einem Jahr findet in Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft statt, das Finale wird dann wie am Sonntag das Endspiel des Confederation Cups im Maracanã ausgetragen. Das ist im Prinzip schön für die Escola Municipal Friedenreich. Welche andere Schule hat schon das bedeutendste Sportereignis der Erde vor der Tür? Doch dieses Bildungsinstitut für Sieben- bis Zwölfährige soll zur WM oder spätestens vor Olympia 2016 in Rio verschwinden, wenn es nach Politikern und Unternehmern geht. Sie wollen das Gebäude mit der weinroten Fassade von 1965 abreißen und den Unterricht in einen Neubau irgendwo anders hin verlegen, damit Investoren an dieser Stelle Parkplätze und Shopping- Center bauen können. Der Fall Friedenreich, der von Geschäftemachern und dem Zorn des Volkes handelt, erzählt viel über den Aufstand in Brasilien.

Bis zu diesem Streit war die Friedenreich-Schule ein Symbol für eine unauffällige und trotzdem gelungene Verbindung von Sport, Bildung und ein bisschen Geschichte. Gewidmet ist sie Arthur Friedenreich, Sohn eines deutschen Immigranten und einer schwarzen Wäscherin aus Bahia, erster farbiger Nationalspieler Brasiliens. Fußball war vor 100 Jahren, lange vor dem Bau des ersten Maracanã 1950, ein Vergnügen der weißen Elite, doch Friedenreich setzte sich trotzdem durch. Er glättete sein gekräuseltes Haar oder verbarg es unter einem Kopftuch. Er beherrschte Körpertäuschungen, Fouls gegen Mulatten wie ihn wurden ja kaum geahndet. Er schoss mehr Tore als Pelé, laut einem Plakat am Eingang traf er 1329-mal. Inzwischen ist die Escola Municipal Friedenreich ein Symbol für die Revolte der brasilianischen Mittelschicht gegen Habgier und Willkür der Mächtigen. "Wir kämpfen gegen diejenigen, die uns eigentlich verteidigen sollten", sagt Andréa Filardi. "Mit uns hat diese Protestwelle angefangen."

Monumente der Verschwendung

Es begann 2009, als die Pläne für den Umbau des mythischen Maracanã bekannt wurden. Die Friedenreich-Schule demonstrierte gegen Zerstörung und Größenwahn. Gemessen am Notenschnitt sind sie die zehntbeste Volksschule Brasiliens, auch Bedürftige und Behinderte werden unter ihrem Dach betreut. Wieso sollen sie Konzernen weichen? Andréa Filardi und ihre Mitstreiterinnen waren zuvor kaum politisch aktiv gewesen. Viele von ihnen hatten den Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva gewählt und die Präsidentin Dilma Rousseff und deren Verbündete wie Rios Gouverneur und Bürgermeister ertragen. Selbst Freunde erklärten ihren Widerstand für verrückt. "Und jetzt gehen sie alle auf die Straße."

Mittlerweile haben Millionen Brasilianer erkannt, dass etwas schiefläuft im vermeintlichen Wunderland. Stadien wie das neue Maracanã sind ein Auslöser, sie gelten als Monumente der Verschwendung. Drei Jahre lang wurde die Betonschüssel nach den Wünschen des Fußball-Weltverbandes Fifa renoviert, die Friedenreich-Kinder und -Erwachsenen litten unter Krawall, Staub und Gestank. Und als das Werk wieder eingeweiht wurde, merkte man, was passiert war: 1,2 Milliarden Reais haben die Bauherrn verschleudert, mehr als 400 Millionen Euro. Insgesamt soll die WM mit ihren zwölf Austragungsorten elf Milliarden Euro kosten. Öffentliche Schulen wie diese und Krankenhäuser wehren sich derweil gegen den Verfall, und auf den Straßen vor den Toren kollabiert der Verkehr.

Das Maracanã-Stadion, ein durchgestylter Tempel der Elite

Das wollen sich die Friedenreich-Leute nicht bieten lassen. Zumal dem legendären Maracanã die Seele genommen wurde, weil sich die Veranstalter allen Wünschen der Fifa fügten. Früher passten 200.000 Menschen hinein, ein Heiligtum für jedermann. Nun ist es ein durchgestylter Tempel der Elite, mit VIP-Logen und Champagner und ohne Fahnen und Musik. Farbige aus den umliegenden Armenvierteln in den Hängen findet man auf den Rängen kaum mehr, die Eintrittskarten sind zu teuer. Obendrein wurden das Leichtathletik-Stadion und das Schwimmbad am Maracanã geschlossen, dort hatten Leichtathleten und Schwimmer trainiert. "Ein kaltes Stadion ist es geworden", sagt Andréa Filardi. Sie schwärmt von der heißen Vergangenheit, als kurz vor Spielbeginn für alle die Eingänge geöffnet wurden, falls Platz war.

Die Nachbarn aus der Friedenreich-Schule kommen sich auf einmal vor wie Fremde. Nur einmal durften elf Schüler unter Leitung von Andréa Filardi in die Festung, zum Gruppenmatch dieser WM-Generalprobe zwischen Spanien und Tahiti. Auserwählte wie die zehnjährige Juliana Araujo liefen an der Hand der spanischen Weltmeister vor 75.000 Zuschauern aufs Feld, vor Anpfiff hatte sie ein Schnellrestaurant mit Fast Food und ein Sportartikelhersteller mit Klamotten ausgestattet, zwei Fifa-Sponsoren. Juliana Araujo fand es toll, aber sie findet es ungerecht, dass ihre Schule abgerissen werden soll. Ihrer Mutter kommen die Tränen. "Typisch Brasilien", sagt sie. "Eine funktionierende Schule soll weg, damit Parkplätze und Einkaufszentrum gebaut werden können."

Militärpolizei und Milliarden

So gehen sie alle auf die Straße, immer wieder. Lehrer und Eltern sind zusammengerückt. Sie unterstützten auch die wenigen Ureinwohner nebenan, die dennoch von der Militärpolizei aus der Ruine eines ehemaligen Indianermuseums gezerrt wurden. Sie ertragen das Tränengas und das Pfefferspray und die Gummigeschosse der Spezialtruppen Tropa de Choque, die Sportstädten wie das Maracanã bewachen.

Und sie fuhren mit Bussen zum Rathaus, wo über die Causa Friedenreich befunden wird. "Vorher wussten wir nicht mal, dass man bei solchen Sitzungen zusehen kann", sagt die Lehrerin Aline Mora. "Jetzt wissen wir, dass wir nicht nur beim Wählen Verantwortung tragen." Die erste Abstimmung der Stadträte ging unter ihrem Jubel knapp zu ihren Gunsten aus, die zweite folgt demnächst. Der Bürgermeister will aber sein Veto einlegen, falls der Standort Friedenreich gewinnt.

Friedenreich, ein schöner Name. Was für ein Kontrast zu Militärpolizei und Milliarden. Am Sonntag wollen die Friedenreich-Verteidiger wieder protestieren. Für das Finale zwischen Brasilien und Spanien im Maracanã haben sie eh keine Tickets.

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