Proteste in Ägypten:Widerstand der Dritten Gewalt

Streiken bis zum Ende der Krise: Nach Mursis Machtausbau stellt sich Ägyptens Justiz auf die Seite der Opposition - und will so Druck auf den Präsidenten ausüben. Ähnliches hat schon einmal bei Hosni Mubarak funktioniert. Doch die Richterschaft ist gespalten.

Tomas Avenarius, Kairo

Ägyptens Richter und Anwälte gehen auf die Barrikaden. Kaum hatte Staatschef Mohammed Mursi sich per Dekret Vollmachten ohnegleichen verliehen - er vereinigt nun alle drei Staatsgewalten in seiner Hand - riefen die Juristen zum Protest auf. Der einflussreiche Richterklub und andere Standesorganisationen rebellieren, in einigen Städten im Nildelta und in Alexandria kündigten Juristen an "bis zum Ende der Krise" zu streiken. Den Grund nannte ein Richter von Ägyptens oberstem Gericht: "Mursis beispielloser Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz."

Der Staatschef hatte versucht, die Justiz bis zur Wahl eines neuen Parlaments im Frühjahr und der Verabschiedung einer neuen Verfassung als Kontrollorgan komplett auszuschalten. Seine früheren und zukünftigen Entscheidungen dürften von keinem Richter mehr infrage gestellt werden, verkündete Mursi am Donnerstag in seiner "Verfassungserklärung".

Das heißt: Erst wenn das Land wieder Grundgesetz und Parlament hat, gibt der Präsident seine nicht nur für Ägypten nie da gewesene Machtfülle auf; er kontrolliert Exekutive, Legislative und Judikative, ohne Parlament und Verfassung. Seine Begründung: "Ich wurde gewählt, dass Heimatland vor Gefahr zu schützen. Das tue ich nun."

"Es kann keinen Dialog geben"

Das sehen Richter und politische Gegner anders. Wichtige Oppositionsparteien und Aktivistengruppen haben sich zusammengeschlossen, verweigern jede Zusammenarbeit mit Mursi. Dieser müsse seine "Verfassungserklärung" zurücknehmen. Der Oppositionspolitiker und Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei verglich Mursi gar mit einem "neuen Pharao": "Es kann keinen Dialog geben, wenn ein Diktator solche ungeheuerlichen, unterdrückerischen Dekrete erlässt."

Die Richterschaft hat sich auf die Seite der Opposition und der nun wieder auf dem Tahrir-Platz Protestierenden gestellt. Zumindest in Teilen: Ägyptens Richter sind, wie die gesamte Bevölkerung, gespalten, denn Mursi hat Kritiker und Sympathisanten. 2006 hatte Nasser Amin, Direktor des Kairoer Zentrums für die Unabhängigkeit der Justiz gesagt: "Ägypten hat unabhängige Richter, aber keine unabhängige Justiz."

Das bringt das Dilemma auch 2012 auf den Punkt: Wie in anderen Transformationsstaaten mit autoritären Systemen kann sie auch nicht als unabhängig betrachtet werden. Der 2011 gestürzte Autokrat Hosni Mubarak hatte während seiner Herrschaft alles getan, um Richter und Staatsanwälte gefügig zu machen. So schränkte er ihr Recht ein, Wahlen zu überwachen. Dagegen hatten sich die Juristen 2006 in einer "Richter-Revolte" gewehrt.

Neuer Generalstaatsanwalt will "revolutionäre Gerichtsbarkeit"

Die Richterschaft ist aber zugleich extrem politisiert. Parallel zu den Gängelungsversuchen hatte die Opposition berufsständische Vereinigungen wie den Richterklub oder die Anwaltsvereinigung unterwandert. Die Islamisten, deren Elite aus der Mittelklasse stammt, sicherten sich so Einfluss auf die Judikative.

Ägypten Mursi Richter Protest

Erst wenn das Land wieder Grundgesetz und Parlament hat, gibt der Präsident seine nicht nur für Ägypten nie da gewesene Machtfülle auf; er kontrolliert Exekutive, Legislative und Judikative, ohne Parlament und Verfassung.

(Foto: dpa)

Die Richter aber wurden vom Staat ernannt, Kandidaten für hohe Richterämter und der Generalstaatsanwalt von Mubarak handverlesen. Auslöser des Streits zwischen dem Islamisten Mursi und der Justiz war der Versuch, den von Mubarak auf Lebenszeit eingesetzten Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud im Oktober abzulösen und als Vatikan-Botschafter wegzuloben. Mahmud weigerte sich, unterstützt von Teilen der Richterschaft.

Eines von Mursis Dekreten verfügt nun erneut die Absetzung dieses Mannes: Mahmud wird von vielen für die schleppende Verfolgung der Verantwortlichen des Mubarak-Regimes und für die vergleichsweise milden Urteile gegen den Ex-Präsidenten, seine zwei Söhne und den Innenminister mitverantwortlich gemacht. Ägypten hat die Todesstrafe; den Angeklagten war neben Korruption Mitverantwortung für die 850 Toten der Januar-Revolution vorgeworfen worden.

Mubarak und Innenminister Habib Al-Adli bekamen lebenslang, die Söhne lange Haftstrafen. Nur wenige der Polizeioffiziere, die den Gewalteinsatz während der Unruhen 2011 kommandiert hatten, wurden zur Verantwortung gezogen. Auch für die ein Jahr später ausgebrochenen Unruhen mit 40 Toten sind keine hohen Offiziere belangt worden.

In der Hoffnung auf öffentliche Zustimmung will der von Mursi eingesetzte neue Generalstaatsanwalt nun eine "revolutionäre Gerichtsbarkeit" auf den Weg bringen, die Prozesse gegen das alte Regime neu aufrollen. Auch das brüskiert die Richter: Ihre Urteile sind ungültig.

So droht der Versuch des Präsidenten, eine weitgehend vom alten Regime bestallte Justiz auszuschalten und die "Dritte Gewalt" über eine von Islamisten dominierte Verfassungsversammlung in seinem Sinne neu aufzustellen, zu einer neuen Phase der Gewalt zu führen, mit Teilen der Justiz aufseiten der Tahrir-Demonstranten.

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