Proteste in Ägypten und Tunesien:Massenaufmärsche statt Demokratie

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Protestieren für Mursi: Anhänger des gestürzten Präsidenten in Kairo (Foto: REUTERS)

In anderen Städten der Welt würde das Problem auf Bürgermeisterebene gelöst, doch im Nahen Osten beschäftigt die Räumung eines Protestcamps Geschwader internationaler Vermittler. Ob in Ägypten oder Tunesien - die "Arabische Straße" ist so mächtig wie selten. In gewisser Weise ähnelt sie dem deutschen Stammtisch. Doch es gibt einen deutlichen Unterschied.

Ein Kommentar von Sonja Zekri, Kairo

Aushungern galt schon als humane Lösung. Strom und Wasser abstellen, die Zugänge blockieren, die Zeltstadt der Muslimbrüder in Kairo austrocknen, vielleicht würden sie dann nach Hause gehen. Ansonsten müsste Ägyptens Innenminister stürmen lassen. Dabei könnte es Tausende Tote geben, hatte er gedroht.

Ein Geschwader internationaler Vermittler hatte über Wochen hinweg versucht, die gewaltlose Auflösung des Protestlagers zu erreichen - eine Aufgabe, die in anderen Städten der Welt auf Bürgermeisterebene erledigt würde. Aber nicht hier, nicht in Ägypten, nicht im Nahen Osten. Hier ist die "Arabische Straße", jene oft beschworene Metapher für die Aufwallungen der Massen, so mächtig wie selten. Und unermüdlich.

Nach dem Vorbild des Mursi-Sturzes in Ägypten ziehen auch in Tunesien Zehntausende auf die Straße und fordern den Rücktritt der demokratisch gewählten Muslimbrüder mit denselben Rufen, mit denen sie vor zwei Jahren den Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt haben. Zweieinhalb Jahre nachdem Volksaufstände Würde, Brot und Freiheit verlangten, fragt man sich, ob die Mobilisierung der Massen noch zu demokratischen Verhältnissen führen kann oder diese verhindert.

Beides ist möglich. Die belagerten Muslimbrüder in Ägypten sind heute keine größeren Demokraten als während ihrer Regierungszeit. Sie setzen auf Massenproteste, um die Rückkehr von Präsident Mohammed Mursi oder zumindest freies Geleit zu erzwingen, aber hatten über Monate Demonstrationen als Wühlarbeit von Staatsfeinden und Ungläubigen diffamiert.

Die Nasser-Masche

Zugleich zogen jüngst Hunderttausende auf die Straße, um Armeechef Abdel Fattah al-Sisi im "Kampf gegen den Terrorismus" zu unterstützen. Gemeint sind damit die Islamisten. Schon verlangen erste Stimmen, dass Sisi Präsident werden müsse - als würdiger Nachfolger Gamal Abdel Nassers.

Der erste Militärherrscher Ägyptens wusste die Massen zu lenken wie kaum ein Zweiter. In den Fünfzigern hatte er Akklamation als Politikersatz etabliert. "Revolutionsregime" in Libyen, Syrien oder im Irak folgten. 1967 waren Nassers Gegner im Gefängnis, im Exil oder tot, die Parteien aufgelöst, unabhängige Gewerkschaften zerschlagen, der öffentliche Raum war ein Forum für Paraden, als Nasser nach der Schmach der Niederlage gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg dem eigenen Volk seinen Rücktritt anbot. Seine Anhänger marschierten zu Millionen, um ihn umzustimmen. Nasser blieb.

Auch seine Nachfolger wussten die Gefühle der Massen zu nutzen und alle Rufe nach Mitsprache zu ignorieren. Sie herrschten wie die Sonnenkönige und lenkten die Frustrationen des Volkes auf fremde Feinde, früher die Kolonialmächte, dann Israel und natürlich Amerika und heute eben die Islamisten. Die arabische Straße ähnelt dem deutschen Stammtisch.

Nur werden in funktionierenden Demokratien Vorurteile und Ressentiments durch Parteien, Medien, Justiz und Verfassung gefiltert. In Ländern wie Ägypten aber stehen Richter und TV-Sender im Dienste der Macht. Die Militärherrschaft hat die ohnehin schwachen Institutionen praktisch außer Kraft gesetzt. Niemand vertraut dem demokratischen Prozess, sondern einzig der Straße. Und die Massen, schwach und lenkbar wie früher, fühlen sich unbesiegbar.

Vor zweieinhalb Jahren schien das anders zu sein. Junge Leute überrumpelten die Herrscher in Tunis und Kairo mit führerlosen Aufständen. Es waren Momente der Emanzipation für die einen, der Beginn großer Verwirrung für die anderen. Nach dem Ende des Personenkults blieb ein Vakuum, und vielleicht ist der Rückfall in alte Huldigungsrituale ja nur eine natürliche Phase. Sie wird, das ist sicher, schwerer zu überwinden sein als alle vorherigen.

© SZ vom 12.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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