Proteste in Ägypten:Sammelbecken für die Unzufriedenen

Wiederholt sich die Revolution von 2011? Die Oppositionsbewegung in Ägypten hat weite Teile des Landes erfasst. Mit dabei sind nicht nur die Aktivisten von damals, auch die Mittelschicht solidarisiert sich. Und selbst einstige Anhänger Mursis wenden sich nun gegen den umstrittenen Präsidenten.

Von Sabrina Ebitsch

Es war eine hochpolitische Geburt, an Symbolkraft kaum zu überbieten. Und diesmal war es kein Gesetz, kein Beschluss, keine Initiative, mit der man "schwanger ging" und die schließlich nach "Geburtswehen" hervorgebracht wurde oder was sonst noch gern aus der Begriffswelt des Kreißsaals bemüht wird, um politische Prozesse zu beschreiben. Diesmal war es tatsächlich die Geburt eines kleinen Menschen, deren Geschichte die Eltern wohl wieder und wieder erzählen werden, eine Geschichte, die ihre Tochter dank ihres Namens ihr Leben lang begleiten wird.

An diesem Sonntag, 30. Juni, kam auf dem Tahrir-Platz in Kairo, umgeben von Tausenden Demonstranten, abgeschirmt nur durch die dünnen Planen eines Sanitätszelts, ein kleines Mädchen auf die Welt. Und als wären der Ort und der Tag symbolisch nicht schon genug aufgeladen, gaben die Eltern ihrem Sprössling auch noch den Namen "Tamarod", was Rebell oder Rebellion bedeutet. Ob öffentliche Niederkunft und Namensgebung ein propagandistischer Glücksfall waren, sei dahingestellt. Sie stehen aber auch dafür, wie sehr die Proteste im Alltag der Ägypter, in der Durchschnittsbevölkerung angekommen sind.

Tamarod als Sammelbecken der Unzufriedenen

Am Tag der Geburt der kleinen Tamarod, der auch der Jahrestag des Amtsantritts von Präsident Mursi ist, hat die Kampagne, die denselben Namen wie das Mädchen trägt, Hunderttausende in ganz Ägypten auf die Straßen gebracht. Unterschriften haben die Aktivisten bereits in den Wochen zuvor gegen den verhassten Präsidenten gesammelt. 22 Millionen und damit fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung Ägyptens sollen unterschrieben haben. Ob diese Zahl stimmt, wissen womöglich nicht einmal die Initiatoren genau. Aber selbst wenn sie großzügig nach oben korrigiert wurde, dürften mittlerweile annähernd so viele Ägypter gegen ihren Präsidenten unterschrieben haben, wie ihn vor einem Jahr gewählt haben.

Das Land ist gespalten wie nie. Doch viele verschiedene Strömungen im ganzen Land versammeln sich hinter Transparenten und Plakaten, auf denen steht: "Hau ab, Mursi!" Es ist der verhasste Präsident, der sie eint. Mursi mobilisiert. "Ganz Ägypten gegen die Muslimbrüder", titelten die Kairoer Zeitungen. Es ist auch die Enttäuschung, die eint. Enttäuschte Hoffnungen, die auf den Präsidenten und seine Muslimbrüder gesetzt waren, und solche, die unspezifisch auf einen grundlegenden Neuanfang gerichtet waren. Tamarod hat eine landesweite, breite Bewegung hervorgebracht. Auch 2011 kamen die Demonstranten aus allen Schichten. Aber nun kommen auch die, die noch nie zuvor demonstriert haben.

Demonstration der Durchschnittsbürger

Es ist anders als vor zwei Jahren eine Volksbewegung im eigentlichen und besten Sinne. SZ-Korrespondentin Sonja Zekri berichtet aus Kairo von einer überraschend positiven, friedlichen und alles andere als aufgeheizten Stimmung am gestrigen Sonntag. Die Todesopfer seien tragisch, das Ausmaß der Gewalt jedoch angesichts der Massen auf den Straßen gering. "Alle haben einen Bürgerkrieg befürchtet und die Leute gehen hin und machen ein Volksfest." Das sei eine Bankrotterklärung für die, die befürchtet hätten, das Land versinke in Gewalt. "Das war das pluralistische, moderate, gut gelaunte Ägypten", sagt Zekri.

Denn diesmal geht auch die Mittelschicht demonstrieren, nicht nur eine zornige Jugend. Neben den politisch Überzeugten, den Revolutionären im Dauereinsatz, denen vor allem die Islamisten an der Spitze des Landes zuwider sind, gehen Familien auf die Straße. Die kleine Tamarod war vielleicht das jüngste, aber sicher nicht das einzige Kind auf dem Tahrir-Platz. Es sind Durchschnittsbürger, denen es um mehr geht als um einzelne politische Forderungen. Ihnen geht es um die Zukunft des Landes, um Ägypten selbst.

Sie haben sich von Mursi und den Muslimbrüdern ein Ende der sozialen Missstände erhofft. Sie sind wütend darüber, dass das Benzin noch immer knapp ist, dass die Stromversorgung noch immer regelmäßig zusammenbricht. "Jetzt sind es nicht nur viele kleine Oppositionsgruppen, sondern weite Teile der Bevölkerung solidarisieren sich", sagt Stephan Roll von der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Demonstranten verfolgten nicht unbedingt politische oder ideologische Ziele, sondern seien aufgrund der wirtschaftlichen Situation frustriert. "Es sind keine Hungeraufstände, aber es hängt unmittelbar mit der wirtschaftlichen Lage und der schlechten Versorgung zusammen."

Auch Mursi-Anhänger wenden sich gegen den Präsidenten

Gegen Mursi wenden sich nun in Teilen auch die, die ihn einst gewählt haben. Unter ihnen sind extreme Islamisten, aber auch gemäßigte, gläubige Muslime, die dem Präsidenten und seiner Partei zum Vorwurf machen, vor allem am Machterhalt interessiert zu sein, alte Strukturen des Mubarak-Regimes für sich zu nutzen und die Religion für ihre Zwecke zu missbrauchen - anstatt überparteilich zu agieren und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes anzugehen.

Vereinzelt unterstützen auch die, gegen die sich die Revolution 2011 gerichtet hatte, die aktuelle Bewegung: alte Mubarak-Getreue, die eine durchaus realistische Chance sehen, das drohende politische Vakuum nach einem Sturz Mursis für ihre Zwecke zu nutzen. "Es sind im weitesten Sinne Anhänger des alten Regimes, die mit auf die Straße gehen", sagt Roll. "Wir haben auch von bewaffneten Gruppen gehört, die für Unruhe sorgen." Die Vermutung liege nahe, dass es sich um Überbleibsel des Mubarak-Regimes handele.

Tamarod sind viele. Auch deshalb, weil der Protest auf der Straße nun ein legitimes Mittel der Unzufriedenen ist, weil Protestierende nicht mehr in dem Maß wie vor zwei Jahren um ihr Leben zu fürchten brauchen. Nun wird sich zeigen müssen, wie groß die Unzufriedenheit, wie anhaltend der Widerstand ist. Es ist eine vielfältige, diffuse Bewegung, die keine gemeinsamen politischen Ziele hat, die keine gemeinsame Vision verbindet, die keine gemeinsamen Vorstellungen von der politischen Zukunft des Landes hat. Nur den Wunsch nach einem zweiten Neuanfang - ohne Mursi.

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