Proteste gegen Polizeigewalt:Die USA stehen nicht am Rande eines Bürgerkriegs

Proteste gegen Polizeigewalt: Versöhnliche Gesten nach dem Ende des Gedenkgottesdienstes für die getöteten Polizisten in Dallas

Versöhnliche Gesten nach dem Ende des Gedenkgottesdienstes für die getöteten Polizisten in Dallas

(Foto: AP)
  • Polizisten erschießen schwarze Menschen, Polizisten werden erschossen - überall in den USA wird protestiert.
  • Nun diskutieren Amerikaner die Frage: Wiederholt sich das Jahr 1968, droht ein Bürgerkrieg?
  • Das Jahr 1968 steht symbolisch für die Angst, dass das Land zerfallen könnte.

Von Hakan Tanriverdi, New York

Wenn Margaret Burnham über die toten schwarzen Menschen spricht, deren Bilder in der vergangenen Woche landesweite Proteste auslösten, denkt sie an die Mordfälle, die sie gerade analysiert - obwohl diese schon viel länger zurückliegen. Eine Verbindung aber gibt es für Burnham trotzdem. Sie selbst sagt, die Menschen, über die sie forscht, seien die "Cousins zweiten Grades" der jetzt Getöteten.

Burnham leitet das Civil Rights Restorative Justice Project in Boston. Es kümmert sich um Menschen, die vor vielen Jahren zu Tode kamen, irgendwann zwischen 1940 und 1970. Schwarze Menschen, beinahe verschluckt und vergessen von der Geschichte. "Cold cases" werden solche Fälle genannt. Die genauen Todesursachen sind unklar.

Burnham und ihre Mitarbeiter arbeiten daran, das zu ändern, Fall für Fall. Am Telefon fasst sie einige ihrer Erkenntnisse zusammen: "Bei den Toten handelt es sich um Afroamerikaner, die getötet wurden, weil sie auf der falschen Straßenseite gelaufen sind. Weil sie ihren Hut zur Begrüßung nicht angetippt haben. Weil sie nicht mit 'Yes, Sir' geantwortet haben. Weil sie sich nicht bewegen wollten, als sie dazu aufgefordert wurden." Die Mörder waren Zivilisten, Polizisten, weiße Menschen. Die Mörder blieben unbestraft.

"Die Geschichte der Polizeibrutalität in den USA ist ungebrochen"

Burnham nennt ihre Toten deshalb Cousins zweiten Grades von Alton Sterling und Philando Castile, den zwei schwarzen Männern, die vergangene Woche von Polizisten erschossen worden waren (mittlerweile sind bereits zwei neue Namen dazu gekommen: Alva Braziel und Delrawn Small). Hier wie in den Fällen, die sie untersucht, handele es sich um "außerrechtliche Exekutionen", sagt Burnham. "Die Geschichte der Polizeibrutalität in den USA ist ungebrochen."

Burnham zieht damit eine Linie zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In den sechziger Jahren führte die Gewalt der Polizei wiederholt zu riots, zu Massenausschreitungen der schwarzen Bevölkerung in mehr als 100 Städten. Die Armee kam zum Einsatz, um Proteste niederzuschlagen, es gab Brände und Plünderungen, später Bombenanschläge und den Aufstieg der radikalen Black-Panther-Bewegung.

Seit ein schwarzer Einzeltäter in Dallas fünf weiße Polizisten erschoss, wird in den USA diskutiert: Befindet sich das Land in einer Situation wie damals in den späten sechziger Jahren? Boulevardmedien wie die New York Post titelten mit fetten Großbuchstaben: "Bürgerkrieg". Präsident Obama meldete sich umgehend zu Wort und widersprach mehrmals - beim Trauergottesdienst in Dallas sagte er: "Wir sind nicht so gespalten, wie wir scheinen."

Exemplarisch für die Ausschreitungen ist das Jahr 1968. In der Geschichte der USA symbolisiert es die Angst vor dem Zerfall des Landes.

Zwei Attentate: Martin Luther King, Bobby Kennedy

"1968 war eine Art Prüfstein", sagt der Journalist Michael Cohen. Er hat gerade ein Buch über die Präsidentschaftswahl und das politische Klima in diesem Jahr veröffentlicht. Martin Luther King wurde 1968 erschossen, kurze Zeit darauf Robert "Bobby" Kennedy, der Bruder von John F. Kennedy, der für die Demokraten Präsident werden wollte. "Es war ein außergewöhnlich brutales Jahr, richtiges Chaos", sagt Cohen.

1968 war das Land tief gespalten. Wegen des Vietnamkrieges gab es kontinuierlich Demonstrationen, die politisch motivierte Gewalt äußerte sich einerseits in den Ausschreitungen, andererseits in gezielten Angriffen auf Polizisten. Das, was heute passiere, "ist nicht ansatzweise mit 68 vergleichbar", resümiert Cohen.

Die Probleme von 1968 existieren weiter

Nach der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King Anfang des Jahres in Memphis kam es zu tagelangen Ausschreitungen in Washington, in Chicago und in Baltimore. In Chicago gab der Bürgermeister der Polizei den Befehl, Brandstifter zu erschießen.

Elizabeth Nix von der University of Baltimore hat die Geschichte ihrer Stadt während dieser Zeit untersucht. Auch sie spricht von einem Moment, in dem "niemand wusste, in welche Richtung sich das alles entwickeln würde". Die Situation heute sei damit nicht zu vergleichen: "Es sterben viel weniger Menschen als damals."

Dennoch weist sie auf Parallelen hin. 1967 berief Präsident Lyndon B. Johnson einen Untersuchungsauschuss ein. Das elfköpfige Team und insgesamt 120 Wissenschaftler sollten herausfinden, was vorangegangene Ausschreitungen ausgelöst hatte.

Der Bericht der "Kerner Commission" erschien kurz vor der Ermordung Kings und wurde zum Bestseller. "Der Hauptgrund für die Aufstände", sagt Nix, "war die Art und Weise, wie die Polizei arbeitete. Auf dem zweiten Platz war die Arbeitslosigkeit. Beides sind Probleme, die wir immer noch haben."

Das glaubt auch der Historiker Julian Zelizer von der Princeton University. Für eine Neuauflage des Kerner-Berichts hat er kürzlich das Vorwort geschrieben. "Es ist erstaunlich: Was die Kommission damals über die Polizeiarbeit sagte, ist sehr ähnlich zu den Diskussionen, die wir heute führen", sagt er.

"Fast jede Ausschreitung im Jahr 1967 wurde durch die Schikanierungen der Afroamerikaner durch Polizisten ausgelöst", sagt Zelizer. Doch anstatt den Bericht ernstzunehmen, habe sich das Land dazu entschieden, den Konservativen Richard Nixon wenig später zum Präsidenten zu machen. Dieser habe auf law & order gesetzt und die Ergebnisse des Berichts ignoriert. (Es fällt auf, dass auch Donald Trump nach Dallas exakt diese Wortwahl benutzt.)

Reizgas, Gummigeschosse, Schallkanonen

Im Mittelpunkt der Diskussionen und der Wut steht heute wie damals die Militarisierung der Polizei. "Es ist unsäglich, wie die Polizei heute auftritt", sagt Barbara Arnwine von der Columbia University. Die Juristin erlebte 1964 die Riots in Watts, einem Bezirk in Los Angeles, persönlich mit. Sie ist überzeugt, dass die Situation heute ähnlich schlimm ist wie in den sechziger Jahren. "Die Polizei kommt mit Reizgas, mit Gummigeschossen, mit Schallkanonen. Und wir reden hier von lokalen Behörden."

Arnwine habe die Videos von Sterling und Castile gesehen und sofort gewusst, dass es zu massenhaften Demonstrationen kommen würde. "Diese Videos haben das Narrativ geändert. So viele Jahre haben weiße Amerikaner gesagt, dass die schwarze Bevölkerung hypersensibel ist, übertreibt und sich Dinge ausdenkt." Doch jetzt sehe man das tatsächliche Material - den Tod in Echtzeit. Arnwine dokumentiert in einer Liste alle Proteste, die seit den Schüssen in Louisiana und Minnesota stattgefunden haben. Sie kommt auf 62 - vor zwei Jahren, zu Hochzeiten von Ferguson, waren es knapp 20 mehr.

Es gebe einen "Rhythmus", an den sich die schwarze Bevölkerung mittlerweile gewöhnt habe. Schwarze sterben im Takt. "300 schwarze Menschen wurden allein 2015 durch Polizisten abgeschlachtet."

Die Juristin weist darauf hin, dass es auch in den sechziger Jahren Bilder gegeben hat, von Polizeihunden, die Protestierende beißen, und Polizisten, die Demonstranten niederknüppeln. Für die weiße Bevölkerung sei das ein ähnlicher Schockmoment gewesen wie die Videos heute.

1968: Kaum Kontakt zwischen Schwarzen und Weißen

Was sich geändert habe, und das sei ein Unterschied, den sie anerkenne: Bewegungen wie Black Lives Matter versuchen, die breite Masse aufzuklären. "Wenn ich mir die Proteste anschaue", sagt Arnwire, "ist das sehr divers, sehr viele Ethnien sind dabei. Es gibt viele weiße Menschen, die wirklich verstehen wollen. In den sechziger Jahren war es mehr schwarz-weiß. Das ist eine positive Änderung."

Nix, die Professorin aus Baltimore, beobachtet Ähnliches. "Wir haben Menschen zu der damaligen Zeit befragt. Und gerade die schwarze und weiße Arbeiterschicht hat uns erzählt, dass es früher kaum Kontakt untereinander gab. In weißen Vierteln haben sie gesagt, dass sie nicht eine schwarze Person gesehen haben."

Burnham, die die cold cases analysiert, glaubt, dass die moderne Bürgerrechtsbewegung vor einem historischen Moment stehe, vor einem Wendepunkt. Habe es die Regierung in den sechziger Jahren noch abgelehnt, Todesfälle auf lokaler Ebene zu untersuchen, habe sich das nun geändert.

Das Justizministerium unter Obama hat angekündigt, den Tod von Sterling zu untersuchen. Auch die Gewalt von weißen Zivilisten gegen die schwarze Bevölkerung sei zurückgegangen. "Wenn weiße Zivilisten Gewalt gegen Schwarze anwenden, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie juristisch verfolgt werden", sagt Burnham. Sie hofft: Die Zeiten, in denen Polizisten schwarzen Gemeinden Schaden zufügen können, ohne unter ständiger Beobachtung zu stehen, sind nun vorbei.

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