Proteste gegen Erdogan:Polizei geht gegen Demonstranten in Ankara vor

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In der türkischen Hauptstadt Ankara greift die Polizei hart gegen Demonstranten durch. In Folge der Zusammenstöße soll ein dritter Aktivist ums Leben gekommen sein.

Die Entwicklungen im Newsblog.

Seit mehreren Tagen liefern sich in der Türkei Demonstranten und Polizei Straßenschlachten - auch in der Nacht zum Donnerstag kam es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die Protestwelle hat fast alle Provinzen des Landes erfasst. Bisher kamen mindestens zwei Menschen ums Leben, der Ärzteverband berichtet von einem dritten Todesopfer.

  • Polizeieinsatz in Ankara: Ungeachtet der Proteste aus dem Ausland hält die türkische Polizei an ihrer harten Gangart gegen Demonstranten fest. Im Zentrum der Hauptstadt Ankara trieben die Sicherheitskräfte am Mittwoch Tausende Teilnehmer einer Gewerkschaftskundgebung mit Tränengas und Wasserwerfern auseinander, Ambulanzen transportierten mindestens vier Verletzte ab.
  • Einsatzkräfte in Istanbul halten sich zurück: In Istanbul blieben am Mittwoch Tausende von Gewerkschaftern mobilisierte Regierungskritiker auf dem symbolträchtigen Taksim-Platz von den Sicherheitskräften unbehelligt. Und selbst sonst bis aufs Blut verfeindete Fans der Fußballvereine Galatasaray, Beşiktaş und Fenerbahçe konnten friedlich Seite an Seite gegen die Regierung protestieren. In der Nacht zum Mittwoch war die Polizei erneut in mehreren Städten mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Auf dem zentralen Platz haben am Dienstag abermals zahlreiche Menschen gegen die türkische Regierung protestiert. Anschließend kam es in der Nacht erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und der türkischen Polizei. Als eine Gruppe von Demonstranten in den Stadtteil Beşiktaş zog, habe die Polizei sie mit Hilfe von Wasserwerfern und Tränengas gestoppt, meldete der Nachrichtensender NTV. In Beşiktaş befindet sich auch das Istanbuler Büro von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. "Regierung, Rücktritt", forderten die Demonstranten. Erdogan hält sich derzeit in Marokko auf.
  • Ärzteverband spricht von drei Toten: Bisher sind bei den Zusammenstößen insgesamt drei Menschen ums Leben gekommen. Ein Aktivist sei am Mittwoch seinen Verletzungen erlegen, die er in Ankara erlitten hatte, erklärte der türkische Ärzteverband TTB nach Angaben der Zeitung Hürriyet. In der südtürkischen Stadt Antakya hatten Unbekannte am Dienstag einen 22-jährigen Demonstranten getötet. Bei dem Mann soll es sich um ein Mitglied der oppositionellen säkularen Republikanischen Volkspartei CHP handeln. Über die Hintergründe der Tat ist bislang nichts bekannt. Am Sonntag war ein 20-Jähriger in Istanbul ums Leben gekommen, als ein Taxi in eine Gruppe Demonstranten fuhr.
Demonstranten kümmern sich um einen Verletzten in Ankara (Foto: REUTERS)
  • Festnahmen wegen Twitter-Botschaften: Wegen der Verbreitung "irreführender und beleidigender Informationen" bei Twitter sind in der Nacht zum Mittwoch mindestens 25 Menschen festgenommen worden. Nach etwa zehn weiteren Verdächtigen suchten die Behörden in der westlichen Stadt Izmir noch, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Ein örtlicher Vertreter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei sagte, die Festnahmen seien wegen "Aufrufs zum Protest" erfolgt. Er rechne mit einer baldigen Freilassung.
  • Protest in 77 türkischen Provinzen: Nach Angaben von Innenminister Muammer Güler kam es seit Beginn der Protestwelle in 77 der 81 Provinzen zu Protestaktionen. Dabei seien 280 Geschäfte, sechs öffentliche Gebäude, 103 Polizeifahrzeuge, 207 Privatwagen, eine Privatwohnung, ein Polizei- und elf Gebäude der Regierungspartei AKP beschädigt worden. Es müsse mit einem Schaden von mehr als 70 Millionen Lira (etwa 30 Millionen Euro) gerechnet werden, sagte der Minister am Dienstag in einer Parlamentsdebatte in Ankara.
  • Vizepremier will Aktivisten treffen: Der stellvertretende Regierungschef Bülent Arinç hat angekündigt, sich mit Opfern von Polizeigewalt treffen zu wollen. Er wolle mit denjenigen sprechen, die wegen des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte Klage eingereicht hätten, erklärte er bei einer Pressekonferenz. Zugleich entschuldigte er sich bei Leidtragenden der Übergriffe. "Ich entschuldige mich bei denen, die Opfer von Gewalt geworden sind, weil sie sich für die Umwelt einsetzen", sagte er. Die Regierung respektiere die "unterschiedlichen Lebensstile" aller Bürger, betonte Arinç nach einem Treffen mit Präsident Abdullah Gül, der auch Gespräche mit der Opposition geführt hatte. Ausdrücklich ausgenommen von dieser Entschuldigung aber seien "diejenigen, die öffentliches Eigentum zerstört haben und die Freiheit anderer einschränken wollen". Zugleich rief er die Demonstranten auf, ihre Proteste umgehend einzustellen. Arinç vertritt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der derzeit zu Staatsbesuchen in Nordafrika ist. Erdogan betonte derweil, die Lage beruhige sich "allmählich" - er setzt darauf, dass bis zu seiner Rückkehr "die Probleme erledigt" sein würden.
  • UN verlangt Aufklärung: Die Vereinten Nationen haben die türkische Regierung aufgefordert, eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt zuzulassen. "Wir sind beunruhigt über Berichte zu überzogener Gewaltanwendung durch Sicherheitsbeamte gegenüber Demonstranten in der Türkei", sagte die Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Cecile Pouilly, in Genf. Es müsse "rasche, sorgfältige und unabhängige Untersuchungen" geben, die Verantwortlichen müssten "juristisch verfolgt" werden.
  • Aufruf zum Streik Der linke Gewerkschaftsbund KESK hat die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes aufgefordert, Dienstagmittag die Arbeit niederzulegen. Die 240.000 Mitglieder sollen damit gegen den "Faschismus" der Regierungspartei AKP eintreten. Der Streik soll zwei Tage dauern und könnte vor allem Schulen und Universitäten betreffen. Verglichen mit Ländern wie Frankreich gelten die Gewerkschaften in der Türkei allerdings als wenig einflussreich.
  • Hintergrund: Seit mehr als einer Woche demonstrieren Aktivisten in Istanbul gegen die Zerstörung des Gezi-Parks am zentralen Taksim-Platz, der einem Einkaufszentrum weichen sollte. Seitdem die Polizei ein Protestlager gewaltsam geräumt hat, geht es aber längst um mehr: Inzwischen richten sich die Proteste vor allem gegen die als zu autoritär empfundene Politik Erdogans. Auch in anderen Städten kommt es seit Freitag immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzt. Mehr als 1700 Menschen wurden verhaftet, die meisten von ihnen sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Mehr als 500 Demonstranten mussten in Krankenhäusern behandelt werden. Inzwischen hat Erdogan angekündigt, dass auf dem Taksim-Platz statt des Einkaufszentrums eine Moschee gebaut werden soll.
© Süddeutsche.de/joku/mit Material von dpa und AFP - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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