Protest-Kulturen: "Ich ziehe den Betrug der Wähler vor"

Ganz Frankreich geht gegen gebrochene Wahlversprechen auf die Straße und in der Bundesrepublik schwankt man zwischen Fleiß und Hysterie. Warum reagieren einzelne Nationen so unterschiedlich auf die Sparpolitik ihrer Regierungen?

Andreas Zielcke

Als Don Draper, der Held der fabelhaften TV-Serie Mad Men, seiner allzu braven Assistentin kündigt, hält sie ihm mit tränenden Augen entgegen: "Aber ich regle doch ständig alle Ihre Dinge!" Don Drapers kühle Antwort: "Sie sollten nicht meine Dinge regeln, sie sollten die Erwartungen der Leute managen!"

Protest-Kulturen: Damit hatte Scotland Yard nicht gerechnet: Am Mittwoch besetzten 200 Studenten die Zentrale der Konservativen Partei. Das passt eigentlich gar nicht in Großbritanniens Protestkultur.

Damit hatte Scotland Yard nicht gerechnet: Am Mittwoch besetzten 200 Studenten die Zentrale der Konservativen Partei. Das passt eigentlich gar nicht in Großbritanniens Protestkultur.

(Foto: AP)

Das ist der politische Satz des Jahres. Er zieht die Lehre aus dem Wahldebakel der Demokraten in Amerika, aus dem Konflikt um Frankreichs Rentenreform oder aus Stuttgart 21. Mag es auch die urdemokratische Binsenweisheit sein: Es nützt nichts, wenn Regierungen "richtig" handeln. Sie müssen zugleich die Erwartungen ihrer Bürger erfüllen, vor allem dadurch, dass sie ihnen Mitsprache und Realisierungsoptionen geben.

Aber es gibt noch einen zweiten Satz des Jahres. Er ergänzt den ersten: Alle Globalisierung hat den nationalen Mentalitäten nicht den Boden entzogen. In den USA, Frankreich, Großbritannien oder Deutschland haben die Mehrheiten auf die Krise und die fiskalische Not des Staates ziemlich genau so reagiert, wie es in ihrem historisch-kulturellen Drehbuch festgeschrieben zu sein scheint.

Fast mustergültig hielten sich Frankreich und Großbritannien an ihre klassischen Rollen. Beide müssen, um den Bankrott zu vermeiden, den Haushalt drastisch schrumpfen. Großbritannien wird eine Austerity-Politik von brutalstmöglichem Ausmaß auferlegt: Bürger und Medien nehmen es gefasst hin; nur die Studenten tanzen jetzt aus der Reihe und machen Randale wegen der Multiplikation der Studiengebühren. Frankreich steht vor einer überfälligen Rentenreform: Die Bürger legten das ganze Land durch Straßenproteste lahm. Was jenseits des Kanals eine schweigende, das ist diesseits eine streikende Mehrheit.

"Auf den ersten Blick", sinniert die britische Financial Times, "bekräftigen die unterschiedlichen Reaktionen jene nationalen Stereotypen, die beide Länder einander zuschreiben. Seit je vermuten die Briten, dass das Land des Marquis de Sade Dritten nur allzu gerne Schmerzen zufügt, aber selbst unfähig ist, Härten auszuhalten. Doch umgekehrt rätseln die Franzosen über den britischen Masochismus und die Neigung ihrer Nachbarn, selbst dann Verantwortung zu übernehmen, wenn keiner ihnen die Schuld anlastet. Wie erkennt man einen Engländer im Kino?, fragt ein französischer Witz. Es ist derjenige, der sich entschuldigt, wenn du ihm versehentlich auf den Fuß trittst."

Differenzen in Konstitution und Mentalität

Die Zeitung mutmaßt dann zwar, dass die Franzosen, im Unterschied zum Vereinigten Königreich, ihren Protest schon deshalb auf die Straße tragen müssen, weil ihre präsidiale Verfassung der parlamentarischen Opposition zu wenig Kraft verleiht. Doch diese konstitutionelle Differenz drückt natürlich ihrerseits konträre politische Mentalitäten aus.

Dem britischen Vertrauen in ihre politischen Organe steht der "traditionelle britische Mangel an zivilem Engagement" (John Thornhill) gegenüber. Aufstände wie gegen Margaret Thatchers "Poll Tax" (eine einkommensunabhängige Kopfsteuer) sind die eruptive Ausnahme, die diese Regel bestätigt. Und selbst jene Proteste waren eher dem britischen Sinn für Fairness geschuldet, die man durch die Kopfsteuer verletzt sah, als durch die finanzielle Last als solche.

Manchmal haben die Franzosen ja recht, wenn sie sich über die britische Leidenslust mokieren. Im Jahre 1989 erklärte der spätere Premierminister John Major: "Wenn Politik nicht schmerzt, wirkt sie nicht". Trotzdem steckt aus englischer Sicht etwas anderes hinter der Härte sich selbst gegenüber, nämlich die Fähigkeit, sich Katastrophen mutig zu stellen und Niederlagen mit spöttischem Lächeln zu begegnen. Wie Frankreich, so musste auch England den Verlust imperialer Größe hinnehmen. Doch statt der nicht tot zu kriegenden französischen Sehnsucht nach der einstigen "Grandeur" zeichnet die Briten ein heroischer Realismus aus. Besser, selbst als Unterlegene auf dem Boden der Tatsachen zu kämpfen als auf dem imaginären Fechtboden der Musketiere. So will man auch mit dem "budgetary blitz" fertig werden; die Metapher sagt alles.

Meister der Schizophrenie

Nicht so in Frankreich. Es ist kein Zufall, dass Cameron vor der Wahl reinen Wein einschenkte und trotzdem gewählt wurde, während Sarkozy vor der Wahl eine Rentenreform ausschloss. So folgte der französische Präsident dem Motto des nationalen Übervaters Charles de Gaulle: "In der Politik muss man entweder sein Land oder seine Wählerschaft betrügen. Ich ziehe den Betrug der Wähler vor." Alle Nationen haben ein schizophrenes Verhältnis zu ihrem Staat, doch die Franzosen sind hier die Meister.

Während die britische Zivilgesellschaft bei aller populären Aggressivität der politischen Medien ihren Regierungen durchaus über den Weg traut und daher entspannter ihren eigenen Dingen nachgehen kann, ist die französische ungleich stärker politisiert; hier ist "der zivile Geist nicht zu trennen von der Ausübung politischer Rechte" (Tocqueville). Doch je umfassender die Zivilgesellschaft vom Staat umsorgt sein will, desto staatsähnlicher wird ihr eigenes Sinnen und Trachten. In Frankreich, da übertreibt Michel Foucault nicht, ist die Zivilgesellschaft in Wahrheit innerlich verstaatlicht. Und der Staat, den man distanzlos verinnerlicht, ist stets Freund und Gegner in einem.

Historisch verweist das auf das Erbe der Revolution, aber auch noch immer auf das Erbe des Ancien Régime. Nichts liegt den ehemaligen Revolutionären so nahe, wie den selbstgeschaffenen Staat als den natürlichen Adressaten der elementaren Fürsorgebedürfnisse zu betrachten. Doch kaum weniger nahe liegt es für all die kleinen Bürger und Unterworfenen bis heute, dem Staatsapparat, diesem fremden Ungeheuer, zu misstrauen. 1789 ist ein mitreißender Mythos, aber auch ein janusköpfiger Spuk.

Rebellion und Sehnsucht

Seine Spur ist in Frankreich allgegenwärtig. Exemplarisch die Studie des amerikanischen Soziologen Laurence Wylie, "Village in the Vaucluse", aus den fünfziger Jahren: "Wenn Madame Arène sagt: 'Sie setzen den Preis des Kaffees rauf', meint sie niemanden aus dem Dorf, sondern eine viel gefährlichere Kategorie von 'sie'. Mit 'sie' meint Madame meist die allgewaltige französische Regierung, weil diese es ist, die Steuern eintreibt, den Krieg erklärt, den Winzern den Weinbau vorschreibt und inkompetente und eigennützige Beamte einsetzt."

Kommt den Bürgern aber ihr Staat als väterlicher Versorger ebenso daher wie als unberechenbarer Herrscher und erwarten sie seine Hilfe, wie sie seinen elitären Eigensinn fürchten, dann kann ihre Loyalität nur gespalten sein: Man wendet sich an den idealen Staat und wehrt sich gegen den realen. Die Rebellionen auf der Straße verfolgen beides zugleich.

Wider die eigenen Interessen

Es wäre dumm, den Franzosen die Einsicht in die unvermeidlichen Reformen abzusprechen. Sie misstrauen dem Staat, nicht der Vernunft. Werden Staat und Vernunft jedoch erst einmal so geschieden, sind beide halbiert. Wer könnte da noch politische Klugheit und Donquichotterie auseinanderhalten?

Diese neurotische Reaktion kann man den Bürgern der USA schwerlich nachsagen. Dabei stehen sie vor Problemen, die viel gewaltiger sind als bloße Haushaltsdefizite. Der erfolgreiche Aufstand der Tea Party, schrill wie er sein mag, zeigt, dass nicht nur über Austerity vs. Schuldenpolitik gestritten, sondern das gesamte Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat neu verhandelt wird.

Die bestürzte Frage, die sich drüben so viele liberale Kommentatoren stellen, wie es denn sein könne, dass die Amerikaner in den Midterm-Wahlen "gegen ihre eigenen Interessen" stimmen konnten (da doch die Demokraten den Kapitalismus gerettet und dem Land ein soziales Gesundheitssystem verschafft hätten, die Republikaner aber das Rad zurückdrehen würden), diese Frage greift darum zu kurz. Es geht um mehr als um widerstreitende materielle Interessen.

Was Amerikas tiefe Verunsicherung und Pfadsuche auslöst, ist ein deprimierendes Szenario von historischer Wucht. In den Worten von Ronald Dworkin, dem großen US-Juristen: "Schmerzhaft wird uns klar, dass unser Traum scheitert. Täglich teilt man uns den neuesten Akt des Abstiegs mit. Der Dollar ist schwach, die Verschuldung niederschmetternd, die Handelsbilanz alarmierend. Den Chinesen gehören unsere Währung und unsere Schulden. Inzwischen haben sie sogar den schnellsten Computer gebaut. Sie denken nicht daran, uns wirtschaftlich entgegenzukommen oder den Iran von Kernwaffen fernzuhalten. Unsere Militärmacht erweist sich als unfähig, Kriege gewinnen wir nicht mehr. Irak war ein multiples Desaster, Afghanistan übertrifft es noch. Die Demokratien der Welt deuten auf Guantanamo und nennen uns Menschenrechtskriminelle. Amerikas Einzigartigkeit verloren zu sehen, bedeutet für viele, ihr Land zu verlieren."

Verdrängung und Einsicht

Zwischen Verdrängung - Marco Rubio, der neu gewählte republikanische Senator von Florida: "Die USA sind einfach die größte Nation aller Zeiten" - zwischen triumphalistischer Verdrängung also und pessimistischer Einsicht stellt sich die Nation selbst auf den Prüfstand. Es ist ein wüster, aber auch großartiger Prozess der Selbstanalyse, in der viel um eine neue "frontier mentality", um die "ruinöse puritanische Tradition" oder auch um die Sehnsucht nach dem unverwüstlichen amerikanischen Heros des Alltags kreist. Den vielleicht beunruhigendsten Satz las man in einem Blog der Huffington Post: "Wir leben in einem Land, das nicht mehr von Männern, sondern von Gesetzen regiert wird."

Jenseits von Überschuldung und politischer Ohnmacht steht dies für eine tiefe demokratische Krise. Die Tea Party, so energisch sie aus der Krise herauswill, verkennt sie wohl am meisten. Den Kampf gegen die schwindenden Kräfte Amerikas führt sie als simples Nullsummenspiel: Schwächen wir den Staat erst recht, gewinnen wenigstens die Individuen an Stärke und Freiheitsraum. Diese schlichte Arithmetik leuchtet in Europa den wenigsten ein, einen Anti-Staatskampf führt hier keiner mehr. Nicht einmal mehr Guido Westerwelle.

Damit sind wir bei den Deutschen. Die französische Hassliebe zum Staat teilen sie nicht, wohl aber eine gehörige Staatsgläubigkeit, teils aus historischen, teils aus guten Gründen. Das moderiert Proteste gegen Sparauflagen (nicht aber, wie Gorleben und Stuttgart zeigen, gegen exekutive Arroganz).

Im Moment entschärft die sprudelnde Konjunktur die Verschuldungsnöte ohnehin. Aber spürbare Unruhe hat die Krise dennoch hinterlassen. Mögen andere zwischen Aufstand und Resignation schwanken, wir schwanken lieber zwischen anderen Polen: zwischen Panikattacken und Arbeitsfleiß, zwischen fremdenfeindlicher Hysterie und der guten alten protestantischen Ethik. Wären die Arbeitsergebnisse und Konjunkturdaten nicht so glänzend, wer weiß, wie weit uns die Panik triebe.

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