Profil:Oleg Senzow

Putins politischer Gefangener ist vor der Fußball-WM in einen Hungerstreik getreten.

Von Julian Hans

FILE PHOTO: Ukrainian film director Sentsov looks on from defendants' cage as he attends a court hearing in Rostov-on-Don
(Foto: Sergey Pivovarov/Reuters)

Wenn am Donnerstag in Moskau das erste Spiel der Fußball-Weltmeisterschaft angepfiffen wird, beginnt mehr als tausend Kilometer nordöstlich im Straflager "Weißer Bär" für Oleg Senzow der zweite Monat seines Hungerstreiks. Der 41-jährige Filmregisseur sei bereits so geschwächt, dass ihm die Zähne ausfallen, berichten Menschenrechtsvertreter; immerhin habe er eingewilligt, vom Gefängnisarzt Vitamine und Nährlösung per Infusion zu erhalten. Trotzdem muss man befürchten, dass Senzow noch vor dem Finale am 15. Juli stirbt.

Den Zeitpunkt für seinen Protest hat Senzow mit Kalkül gewählt. Wenn die ganze Welt auf Russland schaut, dann soll die Ukraine nicht übersehen werden, schrieb er in einer Erklärung. Senzow verlangt die Freilassung von 64 Ukrainern, die aus politischen Gründen in russischen Lagern oder Gefängnissen sitzen. Er selbst ist nur der bekannteste.

Geboren wurde Oleg Senzow in Simferopol auf der Krim, die damals zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörte. Er betrieb ein Internet-Café und machte 2011 einen spielsüchtigen Jungen zum Helden seines ersten Films. "Gamer" wurde auf internationalen Festivals mehrfach ausgezeichnet. 2013 schloss Senzow sich den Maidan-Protesten in Kiew an. Als im Frühjahr 2014 russische Spezialeinheiten die Kasernen der ukrainischen Armee auf der Krim blockierten, kehrte er auf die Halbinsel zurück, versorgte gemeinsam mit anderen Aktivisten die ukrainischen Soldaten mit Lebensmitteln und organisierte Proteste gegen die Besatzer. Das brachte ihn ins Visier des russischen Geheimdienstes.

Zwei Monate nach der Annexion nahm der Geheimdienst Senzow fest. Im August 2015 verurteilte ihn ein Militärgericht zu 20 Jahren Lagerhaft wegen Terrorismus. Die Vorwürfe, er habe im Frühjahr 2014 ein Büro der Kreml-Partei Einiges Russland auf der Krim angesteckt und einen Anschlag auf das Lenin-Standbild in Simferopol geplant, stützten sich auf Aussagen, die die Zeugen vor Gericht nicht wiederholen wollten. Einer erklärte, er sei gefoltert worden. Bei dem Brand war nur geringer Sachschaden entstanden, der angeblich geplante Anschlag auf die Lenin-Statue wurde gar nicht ausgeführt.

Vor der Fußball-WM haben Menschenrechtsgruppen auf der ganzen Welt Aktionen gestartet, um Senzow und andere politische Gefangene freizubekommen. Die Hoffnung nährte sich auch aus der Erfahrung vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014. Damals begnadigte Putin den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij, was als Geste des guten Willens an die internationale Öffentlichkeit gedeutet wurde.

In mehr als 80 Städten und 25 Ländern gab es in den vergangenen Wochen Solidaritätsaktionen für Senzow. Künstler und Intellektuelle in Russland schrieben offene Briefe an Putin. Doch bisher verhallen alle Appelle. Genauso wie im Fall des 60-jährigen Ojub Titijew. Der Leiter des Büros der Menschenrechtsorganisation Memorial in Tschetschenien wurde Anfang des Jahres unter dem Vorwand verhaftet, er habe in seinem Auto Haschisch transportiert.

Wladimir Putin will sich nicht erpressbar zeigen. Aber vielleicht könnte er sich auf einen Gefangenenaustausch einlassen. In Kiew wurde Mitte Mai der Büroleiter der russischen Nachrichtenagentur Ria in der Ukraine, Kirill Wyschinski, wegen des Vorwurfs des Hochverrats festgenommen. Ein Moskauer Gericht verurteilte derweil den ukrainischen Journalisten Roman Suschtschenko wegen Spionage zu zwölf Jahren. Auf beiden Seiten gibt es also genug Geiseln für einen Austausch. Doch bei einem Telefonat am Wochenende wurden sich Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko nicht einig.

Ein toter politischer Gefangener während des Fußballfests, das wäre jedenfalls eine Katastrophe nicht nur für Wladimir Putin, sondern auch für den Weltfußballverband Fifa. Ein neuer Schatten auf dem Land und auf dem Sport.

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