Profil:Mick Jagger

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Der Mitgründer der "Rolling-Stones" gibt den Solokünstler mit politischer Botschaft.

Von Julian Dörr

Was würde wohl ein Paartherapeut dazu sagen? Zum alten Traumpaar des Rock, zu Mick Jagger und Keith Richards? So richtig zueinander finden sie wohl endgültig nicht mehr. Vor ein paar Tagen verplauderte sich Richards in einer Youtube-Fragestunde und verriet, dass es sehr, sehr bald ein neues Rolling-Stones-Studioalbum geben werde, mit neuen, selbstgeschriebenen Songs. Kaum war die Neuigkeit jedoch in der Welt, ließ Mick Jagger einen Tag nach seinem 74. Geburtstag völlig überraschend zwei neue Solo-Singles veröffentlichen. Zwei! Das gibt es eigentlich nicht. Es muss plötzlich pressiert haben. "England Lost" und "Gotta Get A Grip" heißen sie.

Und sie sind - das muss man Jagger lassen - eine neue Art von Polit-Pop. Jagger hat nämlich offenbar den Brexit-Blues. Aber seine beiden neuen Solo-Songs sind nun so gewollt und unüberhörbar politisch, dass sie in ihrer klischeehaften Phrasendrescherei tatsächlich schon wieder vollkommen unpolitisch sind. In Musik und Text sind "England Lost" und "Gotta Get A Grip" beinahe austauschbar. Vom Sound her sind sie klassische Jagger-Solowerke - irgendwo zwischen den etwas ziellosen Rolling Stones der Neunziger und seinen eigenen Mittachtziger-Soloplatten. Die wurden damals zwar von der Kritik recht verhalten aufgenommen, kommerziell waren sie dennoch sehr erfolgreich. Jaggers Solodebüt "She's the Boss" aus dem Jahr 1985 erreichte in den USA Platin, in Großbritannien immerhin Silber. Der letzte Alleingang "Goddess in the Doorway" von 2001 liegt nun aber sogar schon länger zurück als das letzte Stones-Album mit eigenem Material. Auf "England Lost" rumpelt jetzt der Beat voran, in seiner dezenten Verschlepptheit ist er sogar angetäuscht zeitgenössisch, Gitarrenlicks und Mundharmonika-Hook erinnern allerdings stark an "Anybody Seen My Baby".

Viel interessanter ist jedoch, was auf textlicher Ebene präsentiert wird. Eigentlich sei es bei "England Lost" zunächst nur um ein verlorenes Fußballspiel gegangen, sagt Mick Jagger. Aber dann habe er sich auf die Suche nach Antworten auf die Fragen unserer verwirrenden und frustrierenden Zeit begeben. Ein Ergebnis - geboren aus Angst und aus der Ungewissheit der sich verändernden politischen Situation - seien diese beiden Songs. Nun spielte Jagger mit den Rolling Stones früher aber meist genau dort auf, wo eben die politische Situation im Wandel war. Vietnamkrieg, Studentenprotest, Gegenkultur, Altamont. Angst und Ungewissheit sollten nichts Neues für ihn sein. Er hat daraus einst so wundervoll geisterhafte Zeitgeiststücke wie "Gimme Shelter" destilliert.

Der Brexit vermag ihm heute aber nur noch leere Polittalk-Hülsen zu entlocken. An dieser Stelle einmal eine unvollständige Sammlung: "I'm tired of talking about immigration", "The man in the suits are taking all the glory", "The news is all fake", "Immigrants are pouring in, refugees under your skin", "Chaos, crisis, instability, Isis".

Das Ergebnis nach zwei Songs und insgesamt knapp neun Minuten lautet also: England ist verloren, die Nachrichten lügen, die da oben auch, Flüchtlingskrise und irgendwas mit Isis, also der Terrormiliz Islamischer Staat. Unklar bleibt, in welche Rolle Jagger da eigentlich schlüpft. Wessen Standpunkt nimmt er ein? Sein eigener wird es kaum sein. Den des kleinen britischen Mannes? Den des von der großen Politik enttäuschten Stones-Hörers? Wen will er denn entlarven? Und wen ansprechen?

Alles ist weniger ein politischer Kommentar zur Lage der Nation als ein Zeugnis für Jaggers auch mit 74 Jahren offenbar ungebremste Umtriebigkeit. In ihrer Skizzenhaftigkeit klingen "England Lost" und "Gotta Get A Grip" fast so, als wäre der Mann in jüngster Zeit einfach hin und wieder gern ins Studio geflohen. Sein achtes Kind brachte die amerikanische Ballett-Tänzerin Melanie Hamrick erst Ende 2016 zur Welt.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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