Brasilien:Der erstaunliche Karrieresprung eines "Dekorationsvize"

File photo of Brazil's Vice President Michel Temer is pictured at the Planalto Palace in Brasilia

Michel Temer entstammt einer katholischen Familie aus dem Libanon, die vor 90 Jahren nach Brasilien auswanderte.

(Foto: REUTERS)

Viele Brasilianer müssen Vizepräsident Michel Temer jetzt erst einmal googeln. Doch er wird wohl statt Präsidentin Rousseff im August die Olympischen Spiele eröffnen.

Porträt von Boris Herrmann

Noch hat sich Michel Temer nicht zum neuen Präsidenten Brasiliens ausgerufen, jedenfalls nicht offiziell. Vorige Woche hatte er zwar schon mal eine Antrittsrede gehalten, die er den Medien zuspielte, aber da hat er angeblich nur geübt - Abschlusstraining für die Machtübernahme. Die hitzige Parlamentsabstimmung über die Absetzung der noch amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff verfolgte Temer am Sonntagabend schweigend in seinem Vizepräsidentenpalast, mit einem staatsmännischen Lächeln allerdings. Natürlich sorgte Temer auch dafür, dass Bilder dieses Lächelns an die Öffentlichkeit gelangten. Alle sollen wissen, dass er als Retter des Vaterlandes bereitsteht.

Sobald der Senat in den kommenden 14 Tagen die Suspendierung Rousseffs bestätigt - was als Formalie gilt -, rückt Temer ins höchste Staatsamt nach. Zunächst als Interimspräsident, und falls Rousseff im Herbst endgültig abgesetzt wird, darf er bis zur Wahl 2018 bleiben. Michel Miguel Elias Temer, 75, wird wohl die Olympischen Spiele im August in Rio eröffnen.

Das ist eine erstaunliche Karriere für einen, der eben noch ein "Dekorationsvize" war. So hat er sich selbst beschrieben, in einem sehr persönlichen Brief, den er Ende 2015 an Rousseff schickte, und der, wie fast alles in Brasilien, am nächsten Tag in der Zeitung stand. Spätestens da war klar, dass der Bruch zwischen der Präsidentin und ihrem Stellvertreter nur eine Frage der Zeit sein würde. Ende März trat Temer mit seiner Partei PMDB aus der Koalition aus. Er selbst blieb im Amt. Nur so kann er jetzt vom Deko-Vize zum Staatschef aufsteigen. Rousseff beschimpft ihn als den "Anführer der Putschisten".

Begabter Strippenzieher und Postenschieber im Hintergrund

Michel Temer entstammt einer katholischen Familie aus Libanon, die vor 90 Jahren nach Brasilien auswanderte. Er wurde deshalb auch schon halb im Scherz als der "mächtigste lebende Libanese der Welt" bezeichnet. Seine Ehefrau Marcela ist 42 Jahre jünger und mindestens einen Kopf größer. Bis vor Kurzem produzierte diese Liaison in Brasilien deutlich mehr Schlagzeilen als Temers politisches Wirken. Er gilt vor allem als begabter Strippenzieher und Postenschieber im Hintergrund. Viele Brasilianer müssen jetzt erst einmal googeln, mit wem sie es da zu tun bekommen.

Dass dieser Mann aus dem Nichts käme, kann man trotzdem nicht behaupten. Er führt die ideologisch flexible PMDB seit 2001 an und war Präsident des Abgeordnetenhauses. An einer Abneigung gegen Korruption kann es kaum liegen, dass er sich nun nach jahrelanger Loyalität gegen Rousseff stellt. Im Petrobras-Skandal wurden bislang mehr Politiker seiner PMDB angeklagt als von Rousseffs Arbeiterpartei. Auch gegen Temer selbst liegt bereits ein Antrag auf Amtsenthebung vor.

Der promovierte Jurist repräsentiert daher eher den alten Filz als einen Neuanfang. Die Zahl der Brasilianer, die ihn für untragbar halten, ist etwa so groß wie im Falle Rousseffs. Ein Retter des Vaterlandes sieht anders aus.

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