Profil:Jurij Dimitrijew

Dmitrijew rund

Russischer Stalinismus-Forscher, der in eine kafkaeske Lage geraten ist.

Von Frank Nienhuysen

Frischer konnten seine Eindrücke, seine Gedanken nicht sein; denn noch am selben Tag, als Jurij Dmitrijew die Zelle des Untersuchungsgefängnisses verließ, gab er der Nowaja Gasjeta in seiner Wohnung ein Interview. Ende Januar war das. Jahrzehntelang hatte sich der russische Historiker mit den Schicksalen von Häftlingen der Stalin-Zeit beschäftigt; "jetzt habe ich allmählich verstanden, was sie gefühlt haben, wenn sie auf diese Wände schauten, durch diese Gänge liefen, das Klappern der Metalltüren hörten", sagte er.

Dmitrijew, 62, wirkt hager und ernst auf den Zeitungsfotos. Er hat ein schmales Gesicht, Kinnbart, die grauen Haare sind zum Seitenscheitel gekämmt. Ein anderes Foto zeigt ihn, wie er mit seinen Enkeln und seiner Tochter tobt. Damit könnte es bald für lange Zeit vorbei sein. Die Staatsanwaltschaft hat für Dmitrijew eine Haftstrafe von neun Jahren beantragt, in der nächsten Woche wird ein Urteil erwartet. Freisprüche sind selten in Russland. Die Behörde wirft Dmitrijew den Besitz pornografischer Aufnahmen seiner Pflegetochter vor. Sein Anwalt, Kollegen und Künstler wie die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja halten ihn für unschuldig und den Prozess für einen Versuch, seine Arbeit zu diskreditieren.

Dmitrijew ist Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial im Gebiet Karelien. Dort hat er sich in drei Jahrzehnten einen Namen gemacht mit seiner Erforschung der Stalin'schen Terrorjahre. Er hat Massengräber gefunden und dokumentiert, Namen von Opfern erfasst und Gedenkstätten errichtet: Sandarmoch, Krasnyj Bor, vergessen geglaubte Orte, die Verwandte von Opfern nun besuchen können. "Dmitrijew macht aus diesem ursprünglichen Nichts ein Etwas, er erschafft die Punkte, um die herum Erinnerung keimen und sich kristallisieren kann", schrieb der Schriftsteller Sergej Lebedew in der Zeitschrift Osteuropa.

In Russland gibt es allerdings mächtige Menschen, die Stalin für einen großen Herrscher halten und Dmitrijews Arbeit gar nicht mögen. Nach einer angeblich anonymen Anzeige beschlagnahmten Ermittler auf seinem Computer mehr als 100 Fotos, neun davon stuften sie als "pornografisch" ein. Dmitrijew hatte seine Pflegetochter unterernährt aus einem Heim geholt. Die Fotos, auf denen sie nackt ist, sollten nach seinen Angaben dem Jugendamt die Entwicklung des Kindes dokumentieren; sie sollten zeigen, dass sie gesund ist und weder Hämatome noch Hautabschürfungen hat. Die Verteidigung legte mehrere unabhängige Gutachten vor, die besagen, dass es normale Fotos seien. Sogar das zur Sowjetzeit berüchtigte Serbski-Institut für Psychiatrie bescheinigte dem Angeklagten, er sei nicht pädophil und habe auch sonst keine ungewöhnlichen sexuellen Neigungen.

Xenia Sobtschak, die gerade bei der Präsidentenwahl angetreten war, setzte sich für den Historiker sein, sagte, er habe einfach seine Tochter fotografiert, "wie wir alle Fotos von unseren Kindern machen. Ich auch." Für Sobtschak ist klar: "Dmitrijew sitzt wegen seiner Forschungsarbeit. Für den Kampf auf unser Recht, an die Namen der Stalin-Opfer zu erinnern." Auch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur forderte seine Freilassung.

Aber nutzt ihm all dies? Hilft der offene Brief russischer Intellektueller, die Dmitrijew als "einen der würdigsten und heldenhaftesten Menschen unserer Zeit" nennen? Denn dies ist auch die Zeit, in der Stalin, seine Verbrechen und die seiner Ministerien mehr und mehr verharmlost werden. Das russische Justizministerium hat Memorial auf die Liste "ausländischer Agenten" gesetzt. Jurij Dmitrijew sagt, "seit Jahren" habe er geahnt, dass man ihn auf eine "Dienstreise" ins Gefängnis schicken würde: "Ich wusste nur nicht, welchen Reisegrund sie auf das Formular schreiben." Ängste habe er gehabt. "Aber wir schreiben als Historiker nur die Wahrheit auf. Wenn ihnen das nicht gefällt, ist das ihr Problem." Nun ist es auch seins geworden.

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