Profil:Esra Küçük

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Vermittlerin der Kulturen, demnächst am Gorki-Theater Berlin.

Von Jens Schneider

Plötzlich haftete ihr dieses Etikett an - ihr und vielen anderen. "Meine Religion hatte nie eine große Rolle für mich gespielt. Nun wurden wir darauf reduziert, Muslime zu sein", sagt Esra Küçük, " das passierte auch in Gesprächen mit linken Freunden und bürgerlichen Menschen, die mit Sarrazin gar nichts am Hut hatten." Es war das Jahr 2010, Thilo Sarrazin hat mit plumpen Thesen über "Kopftuchmädchen" und den mit ihnen angeblich verbundenen Niedergang Deutschlands einen Bestseller geschrieben, und die junge Sozialwissenschaftlerin Esra Küçük aus Hamburg musste plötzlich erleben, wie ihr in Gesprächen ständig Vorurteile und Klischees über den Islam begegneten - auch von Menschen, die sich für weltoffen und tolerant hielten.

Es waren Sätze, die mit den Worten "Es ist doch aber schon so, dass. . ." begannen, und in denen argwöhnische, oft falsche, weil unwissende Annahmen über die Lebenswelt junger Muslime in Deutschland folgten. Integrationspolitik war damals gar nicht ihr Kernthema. Sie beschäftigte sich mit Klimapolitik und Fragen der Europäischen Union. Aber diese Entwicklung wühlte sie auf, sie wollte etwas dagegensetzen. So gründete sie 2010 die "Junge Islam Konferenz". Die sollte jungen Muslimen, die hier zu Hause sind, eine Stimme geben. Und sie sollte ein Forum schaffen, in dem junge Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund, ob religiös oder nicht, einander verstehen lernen.

Unterstützt von der Humboldt-Universität und der Mercator-Stiftung baute sie ein Netzwerk auf, das in vier Bundesländern Gesprächskreise und Bildungsangebote zum Islam organisiert, ein Bildungsprogramm für Lehrer gehört dazu. Auch werden Jugendliche ausgebildet, um als Multiplikatoren zu wirken. Es gehe um die Frage: "Was macht das neue deutsche Wir aus?" Daran will sie anknüpfen, wenn sie jetzt, mit 32 Jahren, ins Direktorium des Berliner Maxim-Gorki-Theaters wechselt, eines der derzeit spannendsten deutschen Häuser. Sie soll das "Gorki-Forum" aufbauen: als Ort für öffentliche Debatten, der die Vielfalt in der Hauptstadt widerspiegelt.

Küçük ist als Tochter türkischer Gastarbeiter in Fischbek im Süden Hamburgs aufgewachsen, in einer Siedlung, die als sozialer Brennpunkt gilt. In der Grundschule hatten fast alle einen Migrationshintergrund. Dass ein Mädchen wie sie, mit guten Noten, aufs Gymnasium wollte, war für die Rektorin unvorstellbar. Sie verweigerte die Empfehlung, aber die Eltern ließen sich nicht beirren. Nach einem EinserAbitur studierte Küçük Politikwissenschaften in Münster und Lille.

Bevor sie nach Berlin kam, lebte sie im niederländischen Enschede, in Istanbul, Essen und San Francisco. Ihre Dissertation soll sich der Frage widmen, welche Einflüsse das Weltbild junger deutscher Muslime prägen. Küçük sagt, es gehe letztlich um Haltung, nicht um die Herkunft: "Der Migrationshintergrund sollte nicht die Brille sein, durch die man jemanden anschaut."

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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