Pressefreiheit in der Türkei:"Ich habe Angst, dass sie ihn verurteilen"

FILE Police detained prominent Turkish journalist Ahmet Sik in Istanbul on Dec 29 as part of an

Ahmet Şık schrieb seine letzte Kurznachricht am 28. Dezember 2016: "Ich werde verhaftet. Aufgrund eines Tweets solle ich mit dem Staatsanwalt reden müssen." Seitdem sind etwa zehn Monate vergangen.

(Foto: imago/Depo Photos)

Der türkische Journalist Ahmet Şık sitzt in Haft, man wirft ihm Terrorpropaganda vor. Sein Anwalt Can Atalay spricht über Şıks Isolationhaft, haltlose Anschuldigungen - und den Zustand des türkischen Rechtsstaats.

Interview von Luisa Seeling und Baran Datli

Ahmet Şık gehört zu den bekanntesten türkischen Journalisten - wie viele seiner Kollegen sitzt er in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Terrorpropaganda vor. Nun nahm sein Anwalt Can Atalay in seinem Namen den Raif-Badawi-Preis der Friedrich-Naumann-Stiftung für journalistische Courage in Deutschland entgegen. Im Interview spricht er über Şıks Isolationshaft, haltlose Anschuldigungen - und über den desolaten Zustand des türkischen Rechtsstaats. Für Atalay sind solche Gespräche wegen der angespannten Lage in seiner Heimat ein Drahtseilakt. Mehrmals schüttelt der Menschenrechtsanwalt bedauernd den Kopf: Darauf könne er leider nicht antworten.

SZ: Seit fast einem Jahr sitzt Ahmet Şık in Untersuchungshaft. Wie geht es ihm?

Can Atalay: Er ist nahezu komplett isoliert. Das wirkt sich auf seine Gesundheit aus, die sich erheblich verschlechtert hat.

Wie oft können Sie Şık besuchen, wie oft können ihn Familienmitglieder sehen?

In den acht Monaten bis zu seiner Anhörung durfte ich ihn nur einmal pro Woche besuchen. Für seine Familie gilt das bis heute. Im Gefängnis müssen sie von einer Glasscheibe getrennt reden, eine Kamera nimmt alles auf und ein Wärter ist anwesend, der das Gespräch jederzeit beenden darf. Selbst den Tag und Uhrzeit bestimmt die Haftleitung.

Das ist nicht viel Kontakt, wenn man ansonsten allein in einer Zelle sitzt.

Şık hat keine geheime Agenda. Er will offen reden können, auch mal über private Angelegenheiten. Für jemanden, der unter solchen Umständen soziale Kontakte pflegen muss, also mit einem Wärter, der über jedes Wort wacht, sind die einstündigen Besuche seines Anwalts jede Woche besonders wichtig gewesen. Deswegen war es so schlimm für ihn, als ich nicht zu ihm konnte. Mittlerweile haben sie das gelockert und ich darf ihn nun jederzeit besuchen.

Einige der Angeklagten im Cumhuriyet-Prozess wurden freigelassen, Şık aber nicht. Warum? Hält man ihn für so viel gefährlicher als seine Kollegen?

Can Atalay

Mit juristischem Auftrag: Can Atalay

(Foto: privat)

Ich weiß es nicht. Es gibt keine schlüssige Erklärung dafür. Es liegt gegen ihn nichts Handfestes vor, nur seine Nachrichten und Tweets. Ähnlich rätselhaft ist, warum sie Murat Subuncu, den Chefredakteur der Zeitung, nicht freigelassen haben. Die Journalisten haben nur ihre Arbeit gemacht.

Laut türkischem Recht kann jemand bis zu fünf Jahre in Untersuchungshaft bleiben.

Sie ändern das gerade. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat per Dekret beschlossen, die U-Haft kann auf sieben Jahre für bestimmte Straftaten wie Terrorvergehen ausgedehnt werden. Noch sind es zwei Jahre und per Gerichtsbeschluss fünf.

Gegen Şık laufen aber aktuell fünf verschiedene Verfahren. Wirkt sich das auf die Dauer der Untersuchungshaft aus?

Hoffentlich nicht. Aber wie es aussieht, ist das eine Möglichkeit. Ahmet Şık nennt es "juristische Schikane". Sie haben ja sogar seine Verteidigungsrede Ende Juli in die Ermittlungen aufgenommen.

Şık hielt vor Gericht eine kämpferische Rede, in der er unter anderen sagte, er verteidige sich nicht - er klage an. Und dass er einfach nur seine Arbeit als Journalist gemacht habe.

Was ist daran falsch? Şık hat nichts Verbotenes gesagt. Trotzdem wird gegen ihn ermittelt.

Nach dem Erscheinen der Artikel, um die es in dem Prozess unter anderem geht, ist zunächst nichts passiert, später erst leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Şık und seine Kollegen ein: Liegt das daran, dass sich der politische Kontext verändert hat?

Ja, das ist ein Grund. Der andere ist: Şık hat nicht aufgehört, zu recherchieren. In der Anklage werden drei Artikel erwähnt und diverse Tweets. Darin geht es erstens um Interviews mit PKK-Anführern, zweitens um Berichte über mutmaßliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an dschihadistische Gruppen in Syrien und drittens um Interviews mit Mitgliedern der linksradikalen DHKP-C, die einen Staatsanwalt als Geisel genommen und später erschossen haben. Mit den DHKP-C-Leuten hat er am Telefon gesprochen. Das ist Journalismus, keine Propaganda, wie ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft.

Was stand denn in den Tweets?

Şık kritisierte scharf den Mord an Tahir Elçi, der Präsident der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır war und erschossen wurde, nachdem er sich öffentlich für Frieden in den kurdischen Gebieten ausgesprochen hatte. Außerdem griff er in seinen Tweets die militärische Operation im Südosten der Türkei an. Offiziell fing die Staatsanwaltschaft an zu ermitteln, wegen eines Beitrags nach der Ermordung des russischen Botschafters Ende 2016 in Ankara. Şık schrieb: "Wenn es sich bewahrheitet und der Mörder ein Mitglied der Gülen-Sekte ist, was sollen wir mit diesem Fakt dann machen?"

Sind Sie optimistisch, dass dieses Verfahren mit einem Freispruch endet?

Ich habe Angst, dass sie ihn verurteilen.

Können Richter in der Türkei überhaupt noch frei entscheiden?

Wäre ich ein Richter, ich wäre vorsichtig. Viele haben Schwierigkeiten bekommen wegen ihrer Entscheidungen. Im Zuge der Reformen zum Präsidialsystem wurde das Wort "hoch" aus dem Namen "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte gestrichen (Anm. d. Red.: Der HSYK ist zuständig für die disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte und für die Besetzung hochrangiger Posten in der Justiz). Das gibt ihnen eine Vorstellung vom Zustand der Justiz. Nun ist wirklich klar, dass Erdoğan das höchste politische Amt in der Türkei innehat.

Die Institution "Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte" wurde degradiert.

Ich würde gerne mehr erzählen, aber ich muss auch künftig meinen Beruf als Anwalt in der Türkei ausüben. Deswegen nur so viel: Schon 2010 hatte die AKP in Zusammenarbeit mit der Gülen-Sekte damit begonnen, das Justizwesen unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach dem Bruch mit Gülen war das Referendum in diesem Jahr der letzte Schritt hin zu einer Entmachtung der Justiz.

Es heißt, dass in der Türkei elf Deutsche aus politischen Gründen in Haft sitzen. Die bekanntesten sind der Welt-Korrespondent Deniz Yücel, die Journalistin Meşale Tolu und der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner. Wie optimistisch sind Sie, dass sie aus der U-Haft entlassen oder gar freigesprochen werden?

Ich kann Ihnen offiziell nur diese eine Antwort geben: Deniz Yücel ist seit nunmehr acht Monaten im Gefängnis. Er hat noch immer keine Anklageschrift bekommen.

Was bedeutet das?

Nun, im Moment ist der türkische Rechtsstaat gänzlich aufgehoben, deshalb kann keiner vorhersehen, ob und wann genau Yücel freikommt. Alles, was ich dazu sagen könnte, wäre reine Spekulation.

Erdoğan hat Deniz Yücel als Terroristen und Agenten bezeichnet. Kann er unter diesen Umständen überhaupt freikommen?

Ich bin nicht der Anwalt von Yücel. Deshalb kann ich diese Frage nur als einfacher Bürger beantworten. Er war eine Zeitlang in der Öffentlichkeit sehr präsent. Bis heute habe ich keinen Beitrag gesehen, der seine Schuld beweisen könnte.

In Deutschland ist die vorherrschende Meinung: Die elf inhaftierten Deutschen sind politische Geiseln. Sehen Sie das auch so?

Ich kann diese Frage nicht beantworten. Das können Sie ruhig so schreiben.

Tut die Bundesregierung genug, um die deutschen Gefangenen freizubekommen? Sollte Berlin den Druck erhöhen? Oder glauben Sie, das wäre kontraproduktiv?

Ich glaube, dass Deutschland keine kohärente Türkei-Politik hat. Ich will aber keine Handlungsempfehlung abgeben. Was ich empfehlen würde, wäre mehr Solidarität, indem sich die Menschen in der Türkei und Deutschland vernetzen. Journalisten sollten mit Journalisten reden, Anwälte mit Anwälten. Wenn ich im Namen von Ahmet Şık sprechen müsste, dann würde ich sagen: Ihm ist nicht wichtig, was Angela Merkel macht. Ihm ist wichtig, was Sie (deutet auf die Interviewer) machen.

Die ganze Situation ist wenig erfreulich. Gibt es auch Grund zur Hoffnung? Sehen Sie positive Entwicklungen?

In seiner Dankesrede für den Raif-Badawi-Preis hat Ahmet Şık geschrieben: "Menschen erschaffen Hoffnung aus Hoffnungslosigkeit." Das ist ein Zitat des Schriftstellers Yaşar Kemal. Wir müssen optimistisch sein, eine andere Chance haben wir nicht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: