Pressefreiheit:"Alle fürchten sich. Die Türkei ist im Winterschlaf"

Anti-Regierungsproteste in Istanbul

Wohin steuert die Türkei? Proteste gegen Einschränkungen der Pressefreiheit gab es bereits 2015, wie hier in Istanbul.

(Foto: AFP)

Etwa 150 Journalistinnen und Journalisten sitzen in der Türkei in Gefängnissen, viele ohne Anklageschrift. Die SZ hat drei Frauen getroffen, deren Männer einsitzen.

Von Christiane Schlötzer

Wenn Nazire Gürsel ihren Mann im Gefängnis besucht, dann darf sie ihn nicht berühren. Sie muss hinter einer Glasscheibe sitzen und in einen Telefonhörer sprechen. "Sie strafen auch die Familien", sagt Nazire Gürsel, deren Mann Kadri Gürsel, 55, einer von etwa 150 Journalistinnen und Journalisten ist, die derzeit in der Türkei in Gefängnissen sitzen. Viele ohne Anklageschrift. Als Justizminister Bekir Bozdağ jüngst behauptete, keiner der Journalisten sei "nur wegen seiner journalistischen Arbeit" verhaftet worden, ist Nazire Gürsel, 52, der Kragen geplatzt. Da hat sie getwittert: Yeter. Yeter. Yeter. Es reicht. Es reicht. Es reicht. Nazire Gürsel überlegt sich sonst genau, was sie sagt. Es gibt ja nun verbotene Wörter, die man lieber nicht sagt, es reicht schon, wenn ihr Mann Schwierigkeiten hat.

Die SZ hat Nazire Gürsel und andere Frauen, die ihre Ehemänner und Väter in Silivri, dem größten Gefängnis der Türkei, ein Mal pro Woche für eine Stunde besuchen dürfen, auf dem Weg dorthin begleitet oder in Istanbul getroffen. Ihre Männer können sich derzeit nicht äußern, sie dürfen keine Texte für ihre Zeitungen schreiben, haben kein Handy.

Zu den prominentesten Journalisten in Haft gehört Ahmet Şık. Er wurde 2011 schon einmal festgenommen und war dann für ein Jahr im Gefängnis. Damals hatte er das angeblich "gefährlichste Buch des Landes" verfasst. Şık schilderte darin, wie die religiöse Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen Polizei und Justiz in der Türkei unterwanderte. Damals waren Gülen und Recep Tayyip Erdoğan noch Bündnispartner, inzwischen beschuldigt Präsident Erdoğan den Prediger Gülen, Drahtzieher des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 gewesen zu sein. Ahmet Şık, der Aufklärer, aber ist wieder in Haft. Seine Frau Yonca Verdioğlu sagt, ihr Mann sei festgenommen worden, "weil er unabhängig ist, weil er die richtigen Fragen stellt, weil er ein Symbol für den Journalismus ist".

Wohin steuert die Türkei? Yonca Verdioğlu bedauert, dass so wenige Menschen in ihrem Land gegen Erdoğans Eingriffe in die Pressefreiheit protestieren. "Alle fürchten sich. Die Türkei ist im Winterschlaf", sagt sie. Ihr Mann, erzählt Verdioğlu, könne im Gefängnis nicht schreiben, er könne sich nicht konzentrieren. "Er geht jeden Tag 11 000 Schritte in einem kleinen Hof vor seiner Zelle. Die Isolation ist viel härter als 2011."

Viele Journalisten sind schon aus der Türkei geflohen, auch nach Deutschland. Erdoğan droht nun denen, die nicht nach einer Aufforderung durch die Behörden innerhalb von drei Monaten zurückkehren, mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft.

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