Prediger Gülen vs. Erdoğan:"Beifall für einen Leuchtkäfer"

File photo of Islamic preacher Fethullah Gulen at his residence in Saylorsburg, Pennsylvania

Er soll hinter den Razzien gegen Erdoğan-Vertraute stecken: Fethullah Gülen in seinem Haus in Saylorsburg, Pennsylvania.

(Foto: Reuters)

Fethullah Gülen, 72, ist der wichtigste Prediger der islamischen Moderne - nun wirft ihm der türkische Ministerpräsident Erdoğan vor, aus dem US-Exil einen Staatsstreich zu planen. Porträt eines gemäßigten Mannes, dessen Bewegung schon öfter verteufelt wurde.

Von Tim Neshitov

Ein Imam mit Grundschulbildung mobilisiert Millionen Türken; sie gründen Schulen, Medien, Krankenhäuser - weltweit. Fethullah Gülen selbst besitzt nicht viel, er sagt, es gehe ihm darum, das Wohlwollen Gottes im Jenseits zu erlangen. Aber unter den Menschen, die auf seine Worte hören, gibt es welche, die auch im Diesseits einiges erlangt haben: Unternehmer, Beamte, Journalisten, Pop- und Fußballstars. Allein das macht Gülen, den wichtigsten Prediger der islamischen Moderne, für viele Türken und andere suspekt.

Gülen, 72, hat Papst Johannes Paul II. getroffen und setzt sich für interreligiösen Dialog ein, er predigt, dass Islam und Demokratie einander nicht ausschließen. Aber seine Bewegung hat weder eine transparente Hierarchie noch einen regulären Apparat. Außerdem lebt der Mann seit 1999 nicht in seiner Heimat, sondern in Pennsylvania. Gülen ging dorthin, als er in der Türkei eines Putschversuchs beschuldigt wurde. Obwohl er freigesprochen wurde, blieb er in den USA. Die türkische Gesellschaft sei noch zu gespalten, sagte er; er wolle die Spannungen nicht verschärfen.

Dass diese Spannungen nun die Regierungspartei AKP erreicht haben, mag auf den ersten Blick verwundern. Ministerpräsident Tayyip Erdoğan galt lange als Sympathisant Gülens, in den Augen von Verschwörungstheoretikern gar als eine Puppe des Imams, eingesetzt, um die laizistische Republik auszuhöhlen. Allerdings hat sich Gülen nie für oder gegen eine türkische Regierung ausgesprochen. Am deutlichsten äußerte er sich 2010 zu den diplomatischen Künsten Erdoğans. Gülen prangerte an, dass der eine Hilfsflottille nach Gaza fahren ließ, ohne das mit Israel abgesprochen zu haben. Beim Angriff israelischer Spezialkräfte auf die Schiffe waren neun Menschen getötet worden.

Nun soll Gülen hinter den Razzien gegen Erdoğan-Vertraute stecken. Laut Erdoğan versucht er erneut einen Staatsstreich, diesmal aus der Ferne, und unter dem Vorwand von Korruptionsermittlungen. Gülen reagierte auf seiner Website herkul.org entrüstet: "Die Menschen stöhnen abermals auf, denn ihr Herz ist gebrochen. Abermals schämen sie sich, einem Leuchtkäfer Beifall geklatscht zu haben, als wäre es der Stern Sirius; man beugt den Kopf und sagt: Allah, verzeih mir!"

Einer der 100 einflussreichsten Menschen der Welt

Zugleich legt Gülen seiner Gemeinde ans Herz, einfach ihre Arbeit fortzusetzen, ohne auf Skeptiker und Gegner zu achten. Als Sektierer verteufelt zu werden, das ist für Gülen-Anhänger, auch außerhalb ihrer Heimat, nichts Neues. In Russland lancierten Gülen-Gegner 1999 eine Medienkampagne, in der die Gülen-Schulen in Moskau und St. Petersburg als Erziehungslager für tschetschenische Terroristen dargestellt wurden, obwohl die Schüler, unter ihnen Kinder hoher russischer Beamter, bei wissenschaftlichen Wettbewerben abräumten. In China wird der Gemeinde eine heimliche Unterstützung des Turkvolks der Uiguren unterstellt. Auch in Deutschland, wo die Gemeinde zwei Dutzend Schulen betreibt, gibt es Stimmen, die sie mit Scientology vergleichen.

Dieses Jahr wählte das Time Magazine Fethullah Gülen zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Die Begründung: "Er wird von beinahe so vielen Türken verachtet, wie ihn lieben. Aber als mächtigster Befürworter der Mäßigung in der islamischen Welt führt Gülen eine dringend nötige Kampagne."

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